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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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Wawerzinek vor dem dunklen Eichenschreibtisch und knetete nervös die Kappe, mit der er seine Glatze vor der Kälte zu schützen pflegte.
    Der kleine Finger der linken Hand steckte in einem unförmigen Verband, der an den Rändern bereits ausfranste und speckig aussah. Beim Spannen der Fallen am Wochenende hatte sich einer der Verschlüsse unverhofft gelöst. Es grenzte an ein Wunder, dass Wawerzinek für seine Unachtsamkeit nur mit dem ersten Glied seines kleinen Fingers bezahlt und nicht, wie von Kiefer aufgrund des ohrenbetäubenden Schreis befürchtet, den kompletten Unterarm eingebüßt hatte. In diesem Fall hätte Kiefer einen neuen Braugehilfen einstellen müssen.
    »Ich hoffe, es ist was Dringendes«, brummte er und spähte kurz am Bildschirm vorbei, während er lustlos an einer Excel-Tabelle herumtippte.
    »Es geht um die Wahlen, Scheff.«
    »Die Politik bleibt draußen vor dem Werkstor, Henk.«
    »Weiß ich doch. Aber anders kommt man ja nich an dich ran. Dauert auch nich lange.«
    Seufzend ließ Kiefer von der Tabelle ab. »Also was?«
    »Die Kameraden und ich …«, Henk druckste herum, »… also unsere Gruppe, wir wollen einen Kandidaten für den Gemeinderat aufstellen.«
    Kiefer verschluckte sich vor Überraschung und hustete. »Einen Gemeinderatskandidaten?«, wiederholte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte.
    »Wieso nich? Unsere Gruppe will sich für die Belange der heimischen Bevölkerung einsetzen«, sagte Wawerzinek mit einem schiefen Grinsen. Sein lädiertes Gebiss wies verschiedene Brauntöne auf.
    »Aus welcher Wahlkampagne hast du den Spruch denn geklaut?«
    »Wir wollen verhindern, dass sich hier noch mehr von diesen Muftis ansiedeln«, fuhr sein Mitarbeiter tapfer fort.
    »Aha, die Dönerbude habt ihr ja schon sehr erfolgreich verhindert. Schade eigentlich, denn ab und zu esse ich das türkische Zeug ganz gerne.«
    »Dann fahr doch nach Großwallstadt, da gibt’s die besten.«
    Kiefer grinste: »Na, ihr seid mir ja saubere Nationalisten. Die Türken aus dem Dorf verjagen und dann in der Kreisstadt Döner essen gehen.«
    »Die können sich ansiedeln wo sie wollen …«, erwiderte Wawerzinek mit einem unschuldigen Schulterzucken.
    »… nur nicht bei uns«, ergänzte Kiefer den Satz. »Und was habe ich mit der ganzen Geschichte zu tun?«
    »Wir brauchen deine Hilfe. Wenn du als angesehener Bürger unsere Kandidatur offiziell unterstützt, sitzen wir praktisch schon drin im Gemeinderat.«
    Fassungslos lachte Kiefer auf. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
    »Also, ehrlich gesagt, schon.«
    »Was meinst du wohl, was mit meinem Umsatz passiert, wenn herauskommt, dass Kieferbräu Rechtsradikale unterstützt?«
    »Wir sind keine Rechtsradikalen.«
    »Ach nein? Sich im Hinterzimmer vom Kalb treffen und das Horst-Wessel-Lied grölen, wie würdest du das denn sonst nennen?«
    »Wir sind national gesinnt. Und bewahren deutsches Kulturgut. Das Horst-Wessel-Lied singen wir außerdem gar nicht.«
    »Kommt jedenfalls nicht infrage, gemeinsame Sache mit euch zu machen. Es wird schon genug getuschelt, weil du hier arbeitest. Als Ortsvorsteher kann ich mir das Gerede nicht leisten. Und als Unternehmer erst recht nicht. Richte das deinen ›Kameraden‹ aus.«
    »Wir …«
    »Das war mein letztes Wort, Henk. Noch was?«
    Henk stand unschlüssig da. Er strich sich nervös über die Glatze. Tobin konnte sich denken, dass er nicht gerade erpicht darauf war, seinen Nazikumpels die schlechte Nachricht zu überbringen. Er genoss es, zuzuschauen, wie Henks Spatzengehirn auf Hochtouren arbeitete.
    »Henk?«
    Sein Braugehilfe stampfte einmal kurz mit dem Fuß auf, eine Art unterdrückter Wutausbruch, dann verließ er wortlos das Büro und knallte die Tür hinter sich zu.
    Freitag, 1. November
    Nora fühlte sich wie gerädert. Selbst im Schlaf hatte Rosen sie noch verfolgt. In ihrem wirren Traum war er in der Küchentür aufgetaucht, ein Silbertablett in der Hand, und hatte den Deckel hochgehoben, in dem sich sein feistes Grinsen spiegelte. Auf dem Tablett lag in einer Blutlache ein abgetrennter menschlicher Kopf. Ceyda Barans Augen und Mund waren in stummem Entsetzen aufgerissen.
    Nora war aus dem Schlaf hochgeschreckt, hatte ein Glas Wasser getrunken und noch lange wach gelegen, innerlich fröstelnd.
    An diesem Morgen kämpfte sie sich trotz Kopfschmerzen und Erschöpfung durch den morgendlichen Stau nach Wiesbaden vor. Sie hoffte, der Tag würde sie so vereinnahmen, dass sie den hünenhaften Mann und seine

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