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Die Voliere (German Edition)

Die Voliere (German Edition)

Titel: Die Voliere (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Oliver Bischoff
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Richter weiß durchaus, was Rosen meint, er sieht es an seinen Augen, aber er stellt sich dumm. Sicher hat er einen guten Grund dafür. Wie kommt Rosen aus dieser Nummer wieder heraus?
    »Ach nichts«, sagt er.
    » Wessen Freund?«, wiederholt Richter mit Nachdruck.
    »Der Freund der … Frau Doktor.«
    Richter sieht ihn belustigt an: »Sie ist keine Ärztin.«
    »Für mich ist sie eine.«
    »Ich bin ein Freund. Nicht ihr Freund«, sagt G. Richter und blickt auf die Uhr. »Ich muss los.« Er nimmt sein Jackett von der Lehne und stellt die Kaffeetasse ins Spülbecken, in den knisternden Schaum. »Die Schubladen zu durchstöbern, können Sie sich übrigens sparen, hier gibt es keine Wertsachen.«
    Rosen spürt Hitze aufsteigen, seine Ohren fühlen sich heiß an vor Scham, sicher sind sie feuerrot. Richter hält ihn offensichtlich für einen Dieb.
    »Und wenn Sie die volle Zeit bleiben möchten, mischen Sie sich besser nicht in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen.« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, verlässt G. Richter die Küche. Kurz darauf hört Rosen, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt.
    Er wirft einen Blick auf die Uhr. O Gott, kurz vor elf. Gleich kommen die Nachrichten. Er läuft in sein Zimmer, reißt den Koffer auf, zieht einen altertümlichen Radiowecker heraus und steckt ihn mit fahrigen Bewegungen in die Steckdose neben der Tür. Die roten Leuchtziffern blinken, zeigen 00 : 00 an. Aus dem Lautsprecher dringt nur ein atmosphärisches Rauschen statt eines menschlichen Tons. Mit klopfendem Herzen sucht Rosen einen Sender, hört endlich ein Zeitsignal und einen Nachrichtensprecher, der von Wahlergebnissen und Brandkatastrophen redet, aber dann auch die drei entlassenen Straftäter erwähnt, die nun alle Welt in Angst und Schrecken versetzen.
    Sobald die Verkehrsnachrichten und der Wetterbericht vorüber sind, spürt Rosen, wie ihn eine bleierne Schwere überkommt. Er legt sich auf das Bett und fällt trotz des Kaffees augenblicklich in einen totenähnlichen Schlaf.
    *
    Das Seniorenheim im Stadtteil Schwanheim und der daran angrenzende Garten, der sich Park nannte, wiesen alle Anzeichen eines schleichenden Verfalls auf. Bäume und Sträucher, seit Jahren sich selbst überlassen, wucherten vor sich hin und machten sich gegenseitig Platz und Sonne streitig. Die Mauern des Gebäudes waren mit wüsten Schmierereien verunstaltet, die Fenstergitter verrostet und auf dem Empfangstresen in der Eingangshalle blätterte bereits die Farbe ab. Die Zimmer, die den Männern zur Verfügung gestellt worden waren, hatte man notdürftig hergerichtet. Jedem war klar, dass diese Unterkunft nur eine Übergangslösung sein konnte.
    Tibursky hörte die aufgeregten Stimmen draußen auf dem Gang und wusste, sie bedeuteten nichts Gutes. Er war hundemüde. Obwohl das Geschrei der Demonstranten auf Dr. Rauchs Eingreifen hin zu nachtschlafender Zeit geendet hatte, waren die Anrainer mit Fackeln um das Gebäude gelaufen, bis die Dämmerung anbrach. Sie wollten die Männer zermürben, was ihnen hervorragend gelungen war.
    Die bedrohlichen Stimmen im Flur wurden lauter. Einen irrwitzigen Moment lang stellte Tibursky sich vor, wie sie die Tür aufrissen, ihn hinauszerrten, hinunter zum Fluss, und ihn ohne großes Federlesen an einem der Bäume neben dem Radweg aufknüpften. Er würde den Fluss sehen, während er erstickte, immerhin ein tröstlicher Gedanke.
    Aber die Stimmen blieben draußen. Sie entfernten sich, eine Tür schlug zu, die Geräusche verstummten. Tibursky sah sich hilflos im Zimmer um. Er musste etwas tun, deswegen ging er zu den vier Umzugskartons, die seine Habseligkeiten enthielten. Lohnte es sich überhaupt, sie auszupacken?
    Wenn es nach dem aufgebrachten Mob da draußen ging, würde man sie ohnehin bald fortschaffen müssen an einen anderen Ort. Mit anderen Menschen, die mit ihren Parolen und brennenden Fackeln ihren Protest kundtaten. Bis sie irgendwann eine feste Bleibe gefunden hatten, konnte er die Kisten geschlossen lassen oder am besten gleich auf den Müll schmeißen.
    Trotzig riss er den obersten Karton auf, den er vor ein paar Tagen mit einem dicken Rotstift als Vorsicht! Zerbrechlich! gekennzeichnet hatte. Ein Haufen Krepppapier quoll ihm entgegen.
    Er griff hinein und holte das eingewickelte Bündel heraus, das zuoberst lag. Ein Knirschen ertönte. Es versetzte Tibursky einen Stich. Mit zitternden Händen legte er das Päckchen auf den Tisch und faltete das Papier auseinander. Er merkte, wie

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