Die volle Wahrheit
und brach träge zu neuen Horizonten auf, wo ein Aal stolz und horizontal schlängeln konnte.
»Bitte nicht…«, begann Otto.
»Oh, schon gut, ich bin nicht so zimperlich…«
Sacharissas Hand tastete nach dem Aal.
Sie kam wieder zu sich, als ihr Otto mit einem schwarzen Taschentuch verzweifelt Luft zufächelte.
»Meine Güte…«, sagte sie und versuchte, sich aufzusetzen.
In Ottos Gesicht stand derartiges Entsetzen, dass Sacharissa ihre stechenden Kopfschmerzen vorübergehend vergaß.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie. »Du siehst schrecklich aus.« Otto zuckte zurück, versuchte aufzustehen, brach an der Werkbank halb zusammen und presste sich die Hand auf die Brust.
»Käse!«, stöhnte er. »Bitte hol mirr ein Stück Käse! Oderr einen grroßen Apfel! Etwas, in das ich beißen kann! Biiiitte!«
»Hier unten gibt es nichts dergleichen…«
»Halte dich von mirr ferrn!«, heulte Otto. »Und atme nicht auf diese Weise!«
»Auf welche Weise?«
»Dein Busen hebt und senkt sich, auf und ab! Ich bin ein Vampirr! Eine in Ohnmacht fallende junge Frau, ihrr Keuchen, das Wogen ihrres Busens… Das alles berrührrt etwas Grrässliches in mirr…« Mit einem Ruck richtete er sich auf und holte sein Schwarzes Band hervor. »Aberr ich werrde starrk sein!«, kreischte er. »Ich werrde niemanden enttäuschen!«
Er nahm Haltung an und stand ganz steif. Allerdings wirkte er dabei ein wenig verschwommen, weil er von Kopf bis Fuß vibrierte. Mit zittriger Stimme sang er: »Oh, komm nurr zurr Mission, komm nurr, komm nurr, dorrt erwarrten dich eine Tasse Tee und Kuchen…«
An der Leiter wimmelte es plötzlich von Zwergen.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Fräulein?«, fragte Boddony und eilte mit seiner Axt herbei. »Hat er irgendetwas versucht?«
»Nein, nein! Er…«
»… die Flüssigkeit in derr lebenden Aderr, es steht mirr nicht zu, sie zu trrinken…« Schweiß strömte Otto übers Gesicht. Er stand noch immer kerzengerade, die eine Hand auf dem Herz.
»So ist es richtig, Otto!«, rief Sacharissa. »Kämpf dagegen an! Kämpf dagegen an!« Sie wandte sich an die Zwerge. »Hat jemand von euch rohes Fleisch?«
»… fürr ein neues Leben und auch Mäßigung sei gegeben, und nie rreines kaltes Wasserr wirr verrfluchen…« Adern pulsierten an Ottos bleichem Kopf. »Ich habe oben frisches Rattenfilet«, murmelte einer der Zwerge. »Hat mich zwanzig Cent gekostet…«
»Hol es sofort, Gowdie«, sagte Boddony scharf. »Dies sieht schlimm aus!«
»… oh, wirr können Brrandy trrinken und auch Gin, selbst hierr drrin, und wirr dürrfen Whisky schlürrfen und auch Rrum, ohne gleich zu werrden krrumm, doch das Getrränk, das wirr hassen und nicht mehrr anfassen, ist die Flüssigkeit in…«
»Zwanzig Cent sind zwanzig Cent.«
»Seht nur, er beginnt zu zucken!«, stellte Sacharissa fest.
»Und er kann nicht singen«, sagte Gowdie. »Na schön, na schön, ich gehe ja schon, ich gehe ja schon…«
Sacharissa klopfte auf Ottos feuchte Hand.
»Du kannst es schaffen!«, sagte sie mit Nachdruck. »Wir alle sind bei dir! Das sind wir doch, nicht wahr? Nicht wahr?« Ihr unheilvoller Blick ließ die Zwerge mit einem halbherzigen »Ja« antworten. Boddonys Gesichtsausdruck wies allerdings darauf hin, dass er sich fragte, warum Otto bei ihnen war.
Gowdie kehrte mit einem kleinen Paket zurück. Sacharissa riss es ihm aus der Hand und reichte es Otto, der erschrocken versuchte, sicheren Abstand zu ihr zu wahren.
»Nein, es ist nur Rattenfleisch!«, sagte Sacharissa. »Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Rattenfleisch ist dir doch erlaubt, oder?« Otto zögerte kurz und griff dann nach dem Paket.
Er biss hinein.
In der plötzlichen Stille glaubte Sacharissa ein leises Geräusch zu hören. Es klang nach einem Strohhalm ganz unten im Becher. Nach einigen Sekunden öffnete Otto die Augen, blickte verstohlen zu den Zwergen und ließ das Paket fallen.
»Oh, was fürr eine Schande! Wo kann ich mein Gesicht verrstecken? Oh, was müsst ihrr jetzt von mirr denken…«
Sacharissa klatschte mit verzweifeltem Enthusiasmus in die Hände. »Nein, nein! Wir sind alle sehr beeindruckt! Das sind wir doch, nicht wahr ?« Außerhalb von Ottos Blickfeld winkte sie den Zwergen zu, die widerstrebend bestätigten, tatsächlich beeindruckt zu sein.
»Ich bin jetzt seit mehrr als drrei Monaten trrocken«, fuhr Otto fort. »Es ist schrrecklich, ausgerrechnet jetzt einen Zusammenbrruch zu errleiden und…«
»Oh, rohes Fleisch bedeutet nichts
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