Die volle Wahrheit
»Alle meine …ten Freunde beneiden mich darum«, knurrte Herr Tulpe.
In der Stille hörte Herr Nadel, wie die unsichtbaren Gäste die mögliche Anzahl der Freunde von Herrn Tulpe berechneten. Es war keine Berechnung, die einfache Denker dazu veranlasste, ihre Schuhe auszuziehen.
»Ah, gut«, meinte jemand.
»Nun, wir wollen keinen Ärger mit euch«, sagte Herr Nadel. »Zumindest nicht direkt. Wir möchten nur mit einem Werwolf reden.«
»Warum?«, ertönte eine andere Stimme in der Düsternis.
»Wir haben einen Job für ihn«, erklärte Herr Nadel.
Leises Lachen erklang in der Dunkelheit, und eine Gestalt schlurfte
näher. Sie war etwa so groß wie Herr Nadel, hatte spitz zulaufende Ohren und eine Frisur, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie sich unter der zerlumpten Kleidung bis zu den Fußknöcheln fortsetzte. Einzelne Haarbüschel ragten aus Löchern im Hemd und wuchsen auch auf den Handrücken.
»Ich bin ein halber Werwolf«, sagte die Gestalt.
»Welche Hälfte von dir meinst du?«
»Das ist ein sehr komischer Witz.«
»Kannst du mit Hunden sprechen?«
Der angeblich halbe Werwolf sah zum verborgenen Publikum, und
zum ersten Mal spürte Herr Nadel so etwas wie Unruhe. Der Anblick von Herrn Tulpes sich langsam drehendem Auge und seiner pulsierenden Stirn hatte hier nicht den üblichen Effekt. Es raschelte in der Dunkelheit. Irgendwo kicherte jemand.
»Ja«, sagte der Werwolf.
Ach, was soll’s?, dachte Herr Nadel. Mit einer fließenden Bewegung holte er die kleine Pistolenarmbrust hervor und hielt sie nur einen Zoll entfernt vor das Gesicht des Werwolfs.
»Der Bolzen hat eine silberne Spitze«, sagte er.
Die Gestalt vor ihm reagierte mit einer Schnelligkeit, die ihn verblüffte. Plötzlich spürte er eine Hand am Nacken, und fünf krallenartige Fingernägel bohrten sich in seine Haut.
»Diese nicht«, sagte der Werwolf. »Mal sehen, welche Finger sich als Erste bewegen…«
»Ja, in Ordnung«, sagte Herr Tulpe, der etwas in der Hand hielt. »Das ist nur eine Grillgabel«, meinte der Werwolf nach einem flüchtigen Blick.
»Möchtest du feststellen, wie schnell ich die …te Gabel werfen kann?«, fragte Herr Tulpe.
Herr Nadel versuchte zu schlucken, aber es gelang ihm nicht ganz. Tote, so wusste er, konnten ihre Finger kaum mehr bewegen. Aber es waren mindestens zehn Schritte bis zur Tür, und die Entfernung schien mit jedem Herzschlag zu wachsen.
»He«, sagte er. »Das ist nicht nötig, in Ordnung? Ich schlage vor, wir entspannen uns ein wenig. Und es würde mir leichter fallen, mit dir in deiner wahren Gestalt zu reden.«
»Kein Problem, mein Freund.«
Der Werwolf zuckte und schüttelte sich, ohne Herrn Nadels Nacken loszulassen. Sein Gesicht wurde zu einer Grimasse, in der die einzelnen Züge miteinander verschmolzen. Unter anderen Umständen fand Herr Nadel durchaus Gefallen an solchen Dingen, aber diesmal musste er den Blick abwenden.
Dadurch sah er den Schatten an der Wand. Erstaunlicherweise wurde er größer, was auch für die Ohren galt.
»Irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich der Werwolf. Die Zähne waren ihm jetzt beim Sprechen im Weg, und sein Atem roch noch schlimmer als Herr Tulpes Anzug.
»Äh…«, sagte Herr Nadel, der nun auf den Zehenspitzen stand. »Ich glaube, wir sind hier am falschen Ort.«
»Das glaube ich auch«, knurrte der Werwolf.
Herr Tulpe biss bedeutungsvoll eine Flasche auf.
Erneut herrschte die laute Stille von Berechnungen und der persönlichen Mathematik von Gewinn und Verlust.
Herr Tulpe zerbrach die Flasche an seiner Stirn. Inzwischen schien er dem Raum kaum mehr Beachtung zu schenken. Zufälligerweise hatte er eine Flasche in der Hand gehalten, für die er keine Verwendung sah. Sie auf die Theke zu stellen, hätte mentale Energie für die notwendige Hand-und-Augen-Koordination verschwendet.
Die Anwesenden überlegten.
»Ist er ein Mensch ?«, fragte der Werwolf.
»Nun, ›Mensch‹ ist natürlich nur ein Wort«, erwiderte Herr Nadel.
Er fühlte, wie das auf seinen Zehen lastende Gewicht zunahm, als man ihn herabließ.
»Ich glaube, wir gehen jetzt besser«, sagte er vorsichtig.
»In Ordnung«, entgegnete der Werwolf. Herr Tulpe hatte ein Glas mit eingelegten Gurken aufgeschlagen – zumindest enthielt es lange, dicke und grüne Objekte – und versuchte gerade, sich eine in die Nase zu schieben.
»Wenn wir hier bleiben wollten, ließen wir uns nicht daran hindern«, sagte Herr Nadel.
»Natürlich. Aber du willst gehen. Ebenso wie dein…
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