Die vollkommene Lady
Frühstückstisch
lagen Brötchen und stand ein Glas Honig. In dem Bestreben, ja passend angezogen
zu sein, vertauschte Julia ihren Morgenrock mit einem weißen Pikeekleid und
puderte sich hastig die Nase. Und sie tat gut daran, denn im nächsten
Augenblick klopfte es an die Tür, und hinter der Tür erschien eine Kaffeekanne,
und die Kaffeekanne trug ihre Tochter Susan.
*
Beim ersten Blick machte Julias Herz
einen Freudensprung. Denn Susan war hübsch, und zwar auf eine besondere
damenhafte Art hübsch. Sie hatte die Größe und die Schlankheit der Packetts und
auch deren blondes Haar und Augen von dem seltenen klaren Grau, das auch nicht
durch die geringste blaue Färbung getrübt oder verdunkelt wird. Nichts in ihrem
Gesicht und nichts in ihrer süßen Mädchenstimme erinnerte an Julia.
„Guten Morgen“, sagte Susan.
Sie hielt die Kaffeekanne immer noch in
der Hand — um sich zu schützen? — so daß Julia, die mit einer Umarmung
gerechnet hatte, sich erst sammeln mußte, ehe sie antworten konnte.
„Guten Morgen“, sagte sie und versuchte
das Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken. „Guten Morgen, Susan.“
Das Mädchen setzte die Kanne ab —
glaubte sie die Gefahr überwunden? — und lächelte ernsthaft.
„Ja“, sagte sie. „Ich bin Susan. Ich
hoffe, du nimmst es mir nicht übel, daß ich dich nicht abgeholt habe, aber —“
„Aber hier ist es viel netter“, fiel
Julia rasch ein.
„Großmutter fand es sehr unpassend,
aber ich dachte, du würdest es verstehen.“ Das war jedenfalls ermutigend. „Und
sie ist ebenso darüber entsetzt“, fuhr Susan fort und lächelte wieder, „daß ich
sie nicht aufstehen ließ, um dich zu begrüßen. Sie sitzt jetzt im Bett und
wartet, bis du gefrühstückt hast. Aber ich wollte dich erst für mich allein
haben.“
Diese freundlichen Worte, die mit einer
so ernsten und liebreizenden Stimme gesprochen wurden, erfüllten Julia mit
mütterlicher Freude. Aber die Freude war noch etwas gezwungen. Als sie sich an
den Tisch setzte und sich von Susan einschenken ließ, überkam sie das
sonderbare Gefühl aus dem Badezimmer von neuem. War das wirklich ihre Tochter,
die da so hausfraulich besorgt neben dem Teebrett stand? Hatte sie selbst in
diesem fremden, kahlen Haus die Rechte einer Tochter? Es kam ihr alles so
unwirklich vor. Nichts kam ihr wirklich vor, selbst nicht das Stück Brot
zwischen ihren Zähnen, das sie sich zwingen mußte hinunterzuschlucken...
„Bist du auch verlegen?“ fragte Susan
unerwartet. „Ich bin’s.“
Julia strahlte.
„Bis eben noch war ich es auch.“
Impulsiv stand sie vom Tisch auf; aber sie war immer noch zu verlegen, um ihrer
Tochter einen Kuß zu geben. All ihrem Liebreiz zum Trotz sah Susan nicht so
aus, als ob sie sich viel aus einem Kuß machen würde. Und als ihr dieser
Gedanke durch den Kopf ging, empfand Julia eine verstärkte Neugier, etwas über
Susans jungen Mann zu erfahren.
„Erzähl’ mir alles von ihm!“ rief Julia
ungestüm und setzte sich in die Fensternische, Herz und Ohren weit auf.
Susan jedoch hatte ihre eigenen Pläne.
Sie lächelte zärtlich, schüttelte aber den Kopf.
„Er heißt Bryan Relton, ist
sechsundzwanzig Jahre alt und Anwalt, und finanziell schon vollkommen
unabhängig. Du wirst ihn beim Lunch sehen. Ich meine nur, es hat keinen Zweck,
jetzt schon über irgend etwas zu reden, nicht wahr? Ich meine, bevor du uns
beide kennst, ist es nicht fair, dich um deine Meinung zu bitten.“
Hübsch gesagt, dachte Julia; aber sie
wußte, was es eigentlich bedeutete. „Nicht fair“ hieß soviel wie: „keinen
Zweck.“ Recht hat sie ja, dachte Julia weiter, aber diese nüchterne Überlegung
bei einem verliebten jungen Mädchen schien ihr doch übertrieben zu sein. Oder
war es eher Vorsicht? War Bryan Relton einer von diesen jungen Leuten, über die
man wenig aussagen konnte, die aber nur persönlich in Erscheinung zu treten
brauchten, um alle im Sturm zu nehmen? So überlegte Julia aber nicht lange; sie
war zu sehr damit beschäftigt, ihre Tochter zu beobachten. Je mehr man sie
ansah — und Susan saß nun ganz nahe auf der Fensterbank —, desto mehr sah man,
wie vollkommen sie war. Ihre schönen, kleinen Ohren lagen dicht am Kopf an.
Ihre schönen, kleinen Hände, braungebrannt aber tadellos gepflegt, saßen so
zart an den schmalen Gelenken wie Blätter an einem schlanken Blumenstengel. Und
dann wirkte sie so sauber! Julia war auch sauber, sie badete jeden Tag, wenn
sie warmes Wasser zur
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