Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
Vom Netzwerk:
aussteigen und
auf dem Bahnsteig bereit stehen, damit, wenn Susan angelaufen käme, ihrer
Umarmung nichts im Wege stand — und auch, damit das Schild auf ihrem Koffer
weithin sichtbar war. Denn Julia verließ sich nicht allein auf den
töchterlichen Instinkt: sie hatte ein besonderes Pappschild zurechtgeschnitten,
zwanzig zu zehn Zentimeter groß, und in Druckbuchstaben MRS. PACKETT
draufgemalt. So konnte auch ein Fremder sich nicht in ihrer Person irren; und
wie sich dann herausstellte — wie es sich so oft bei Julia herausstellte —, war
es ein Fremder, der sie zuerst ansprach.
    „Miis’ Packett?“
    „Gehen Sie weiter“, fuhr Julia ihn an.
Es war ein sehr kleiner Mann, und sie sah direkt über ihn hinweg und suchte mit
den Augen den Bahnsteig ab. Keine auf sie zulaufende Tochter war in Sicht; die
wenigen Reisenden gingen mit ihren Freunden schon dem Ausgang zu. Julia fühlte
sich nicht gerade unbehaglich, aber sie fühlte, daß irgend etwas
Unerquickliches im Anzuge war.
    „Miis’ Packett?“ fragte der Mann
beharrlich von neuem. „Miis’ Packett, Les Sapins, Muzin?“ Er hielt ihr etwas
hin, einen Briefumschlag, der tatsächlich ihren Namen trug; und als Julia genau
hinsah, wurde ihr leichter ums Herz. Dieses Mal kannte sie die Handschrift
jedenfalls.
    „Liebe Mutter“, schrieb Susan, „ich bin
so sehr froh, daß Du gekommen bist, aber ich hole Dich nicht ab, weil ein
Bahnhof um halb sieben Uhr morgens so ein gräßlicher Treffpunkt ist. Der Mann,
der Dir diese Zeilen übergibt, ist der Bahnhofsschofför, er wird Dich nach
Muzin fahren, und ich dachte, Du würdest vor dem Frühstück vielleicht gern
baden und noch etwas schlafen wollen. In Liebe Susan.“
    Julia faltete den Bogen zusammen,
bezeichnete dem Schofför ihr Gepäck und folgte ihm dann durch den Bahnhof nach
draußen zum Auto. Die Kühle der grauen Morgenluft machte sie frösteln: als sie
sich wieder die Nase puderte und in dem kleinen Taschenspiegel ihr Gesicht
erblickte, dachte sie, daß Susan vielleicht sehr weise gehandelt hätte.
    „Wirklich sehr vernünftig“, sagte Julia
laut. Zu ihrer Überraschung klang das so, als wollte sie jemand überzeugen. „Und
sehr rücksichtsvoll“, fügte sie ärgerlich hinzu. Dann legte sie sich ihren
Mantel über die Beine und betrachtete die Landschaft. Ihr hauptsächlicher
Eindruck war, daß es bergan ging. Sie wollte nur für ein paar Sekunden die Augen
schließen; und als sie sie wieder öffnete, hielt der Wagen gerade an.
     
    *
     
    Sie schien sich auf einem Bauernhof zu
befinden. Geflügel flatterte um die Räder des Autos, ein Hund bellte, und über
die untere Hälfte einer Stalltür hinweg blickte ein Pferd aufmerksam zu.
    „Qu’est-ce que c’est?“ rief Julia, an
die Scheibe klopfend.
    „Muzin!“ rief der Schofför zurück.
    Julia sah das Pferd an. Das Pferd sah
Julia an. Direkt über seinem Kopf befand sich an der Mauer ein altes
Reklameschild einer Nähmaschinenfabrik.
    „Ah!“ rief der Schofför zufrieden aus,
beugte sich aus dem Fenster und rief eine Gruppe von drei Männern an, die alle
landwirtschaftliche Geräte trugen und plötzlich vor ihm aufgetaucht waren. Sie
hatten bunte Hemden, blaue Hosen und Strohhüte, so ungefähr wie Tropenhelme.
Das gab ihnen in Julias Augen das sonderbare Aussehen von Tropenforschern; sie
waren jedoch offenbar, und im Gegenteil, Einheimische.
    „Bonjour, Messieurs!“ rief der
Schofför. „C’est ici, Les Sapins?“
    Der älteste von ihnen deutete auf eine
schmale Durchfahrt zwischen zwei Scheunen. Hier durch, besagte die Geste, und
dann aufwärts — aber noch ein ganzes Stück weiter oben! — liege Les Sapins. Der
Wagen fuhr langsam an, zwängte sich durch die enge Durchfahrt, überquerte einen
Platz mit einem Brunnen darauf und kletterte dann aufwärts, immer höher, an
noch zwei Bauernhöfen vorüber, bis ihm der Weg durch ein eisernes Tor versperrt
wurde. Der Schofför öffnete es, und als die Torflügel auseinanderschlugen,
erblickte Julia dahinter die ersten stattlichen Vorposten — riesig, dunkel,
majestätisch — einer Pinienallee.
    Sie war angelangt.
     
    *
     
    Die Villa Les Sapins, so wie sie
ursprünglich zur Zeit des ersten Kaiserreichs gebaut worden war, war ein
kleines, weißes Gebäude mit zum Teil zwei Stockwerken, zum Teil nur einem. Es
ragte viereckig vom Berghang auf. Die obere und eigentliche Eingangstür führte
auf eine Terrasse unterhalb der Weinstöcke, die untere Tür auf eine Terrasse
oberhalb des

Weitere Kostenlose Bücher