Die vollkommene Lady
Gemüsegartens. Unten befanden sich das Eßzimmer, die Küche und die
Vorratsräume, oben ein Salon und drei Schlafzimmer. Diese Räumlichkeiten hatten
den jeweiligen Bewohnern bis 1890 genügt, dann ließ ein neuer Besitzer mit
geselligen Neigungen ein Billardzimmer und noch zwei Schlafzimmer anbauen. Er
baute in die Breite und verwandelte so das ursprüngliche Quadrat in ein
Rechteck. Außerdem verlängerte er entsprechend die Terrassen und verband sie zu
beiden Seiten des Hauses durch eine prächtige, stuckverzierte Treppe. Mit dem
Bau dieser Treppe erreichte die Herrlichkeit von Les Sapins ihren Höhepunkt;
sie dauerte nur zwei Jahre. Der gastliche Eigentümer machte Bankrott, die Villa
stand entweder leer oder wurde im Laufe der Jahre nur den Sommer über von den
verschiedensten Leuten gemietet und vernachlässigt, bis sie in die Hände einer
englischen alten Jungfer namens Spencer-John überging, die ein Bad einbauen
ließ. Miß Spencer-John kannte Mrs. Packett; und Mrs. Packett mietete die Villa
für den Sommer 1936.
Doch selbst im Verfall war das
Besitztum bezaubernd. Ein riesiger virginischer Jasminstrauch verdeckte mit
seinen roten, wachsartigen Blütenglocken die schadhaftesten Stellen des Daches.
Im tiefen Schatten der umwachsenden
Pinienbäume sahen die Mauern noch immer weiß aus. Runde Kästen mit
Oleanderbüschen flankierten die zerbrochenen Stufen, eine große Linde
verbreitete Schatten und Duft über die untere Terrasse. Die Rosensträucher
sahen wie Lauben aus und die Laube wie ein Rosenstrauch. Aber das Schönste an
dem Grundstück war die Aussicht. Von dem Gipfel des Weinberges, der unmittelbar
hinter dem Hause anstieg, hatte man einen freien Blick über eine weite,
kreisförmige Ebene, die, von Bergen umsäumt, von Dörfern gefleckt, von kleinen
Hügeln belebt, vollständig bebaut war und deren Mittelpunkt das winzige Bistum
von Belley bildete.
Es war der Spott der Dörfler, daß die
Hintertür von Les Sapins dreißig Meter höher lag als die Vordertür, und der
Stolz der Bewohner, daß man von ihrer Villa aus den Montblanc sehen konnte.
*
Hoch oben zwischen den letzten Bäumen
stand am Morgen von Julias Ankunft ein großes, blondes Mädchen in einem alten
Regenmantel. Seit sechs Uhr hielt sie dort die Straße von Ambérieu im Auge wie
eine belagerte Garnison, die nach befreundeten Streitkräften Ausschau hält. Ihr
Gesicht hellte sich jedoch auch dann nicht auf, als das Auto endlich
auftauchte. Sie hatte keinen bekannten Verbündeten, sondern eine unbekannte
Macht zu Hilfe gerufen. Durch diesen impulsiven Brief, der sogleich abgeschickt
wurde, nachdem er geschrieben worden war, hatte sie eine Fremde eingeladen,
sich in ihre innersten Angelegenheiten zu mischen; hatte stillschweigend
eingewilligt, alle Verteidigung aufzugeben, alle Schwächen bloßzulegen als Dank
für eine Verstärkung, deren Kräfte sie nicht kannte.
Habe ich töricht gehandelt? fragte
Susan Packett die Pinien.
Natürlich erhielt sie keine Antwort;
und als die Torflügel aufgingen, als der Wagen die Allee hinauffuhr, drehte
Susan dem Haus den Rücken und begann höher und immer höher zu klettern bis zu
den kahlen Felsen.
6
U nter den Rosen der offenen Veranda
wurde Julia von einer älteren französischen Wirtschafterin empfangen, die sie
sofort in eine hohe Diele führte, in der jedes Geräusch widerhallte. Die
Französin in ihren Stoffpantoffeln trat so leise auf wie eine Katze, aber
Julias Absätze klapperten. Und vielleicht überkam sie schon in diesem
Augenblick das Gefühl, das sie später nie mehr los wurde, daß sie immer doppelt
so viel Lärm machte wie alle anderen Leute im Haus.
„Das Badezimmer“, sagte die alte Frau
stolz, während sie eine Tür öffnete.
„Ich sehe“, sagte Julia. „Sehr schick.“
„Möchte Madame ein Bad nehmen?“
„Gleich“, bejahte Julia. „Sobald ich
mein Waschzeug ausgepackt habe. Schwamm, Seife. Im Koffer.“
„Madame spricht französisch!“ rief die
Alte höflich bewundernd aus. Und einen Augenblick darauf wünschte Julia, sie
hätte es nicht getan, denn während Claudia nach den Koffern griff, sprudelte
sie in einem angeregten Wortschwall etwas hervor, was, wie Julia annahm,
irgendwelche Botschaften von Susan und Mrs. Packett und allgemeine Anweisungen
für ihr eigenes Verhalten bedeuten sollte. Es blieb ihr jedenfalls nichts
übrig, als verständnisinnig zu lächeln; und das tat Julia denn auch.
„Und — hier ist das Zimmer von
Weitere Kostenlose Bücher