Die vollkommene Lady
morschen
Steintreppe; und es kam ihr auch in den Sinn, daß ihre eigene weiße Gestalt,
wie sie sich da von den dunkelblauen Kissen im Stuhl abhob, sich sehr reizvoll
ausnehmen müsse.
Hier hielt Julia inne. Unter der
angenehmen Oberfläche ihrer Gedanken wurde in ihr das Bewußtsein rege, daß ihr
irgend etwas fehlte. Was mochte es nur sein? Sie fühlte sich hier sehr
behaglich, sie war nicht mehr traurig über Susan, aber das genügte alles nicht.
Irgend etwas fehlte ihr. Was war es nur?
Natürlich, dachte Julia überrascht, daß
sie nicht gleich darauf gekommen war. Ein Mann! Ein Mann hätte hier sein
müssen, um ihr weißes Kleid zu bewundern und ihr Schönheitsempfinden, wenn sie
ihn auf die Farbenpracht der Jasminblüten aufmerksam machte. Nicht etwa
deshalb, weil Julia nicht ohne einen auskommen konnte — sie sehnte sich gar
nicht persönlich nach einem Mann —, sondern weil die Schönheit dieses
bezaubernden Erdenwinkels mit seinen Rosen und Terrassen und zweifellos
zahlreichen lauschigen Eckchen ihr ohne die Anwesenheit eines Mannes so
verschwendet schien.
In diesem Augenblick sah sie einen Mann
auf sich zukommen.
*
Julia bewunderte ihn sofort. Er war
jung, dunkelbraun gebrannt und mit einem blauen Hemd, hellbraunen Hosen und
Sandalen bekleidet, die früher einmal weiß gewesen waren. Über der Schulter
trug er eine helle Jacke und auf dem Kopf einen dieser grob geflochtenen
Strohhüte, die die Form von Tropenhelmen hatten und Julia schon in dem
Bauernhof aufgefallen waren. Diesen Hut nahm er jetzt, als er näherkam,
ehrerbietig ab.
„Bonjour, Madame!“
Julia nickte leutselig. Sie hoffte, daß
er ein Gärtner war, denn obwohl sie offenbar keinen Herrn vor sich hatte, mit
dem zusammen man auf der Terrasse sitzen konnte, würde es doch nett sein, ihn
um sich zu haben, fand Julia. Er könnte ihr Kissen holen, die Zigarette
anzünden, vielleicht etwas Obst für sie pflücken und ihr in schüchterner
Verehrung Sträuße von wildwachsenden Blumen darreichen...
„Bonjour, mon homme“, erwiderte Julia
anmutig.
Der junge Mann grinste. Der Wechsel war
so plötzlich — das leuchtende Weiß der Zähne veränderte, während es aufblitzte,
seinen Gesichtsausdruck so völlig, daß Julia einen ordentlichen Schock bekam.
Obwohl er den Hut noch immer in der Hand hielt, sah er jetzt kaum mehr
ehrerbietig aus. Seine Augen blickten sie mit unverhohlener Bewunderung an. Er
musterte sie ungeniert, und was er sah, gefiel ihm augenscheinlich, denn er
warf ihr einen anerkennenden, wenn nicht gar verliebten Blick zu. Die Franzosen
waren nun einmal so, das wußte Julia, und man durfte es hier nicht so genau
damit nehmen; aber von einem Gärtner war es — eben doch eine Unverschämtheit.
„Gehen Sie an Ihre Arbeit!“ sagte sie
scharf. „Allez-vous en!“
Er ging sofort, aber offensichtlich gar
nicht betroffen, auf die Eisenpforte des Gemüsegartens zu, und trotz ihres
Unwillens mußte Julia doch zugeben, daß seine Gestalt in ihrer bunten,
fremdartigen Kleidung der Landschaft einen neuen malerischen Reiz verlieh. Er
war nicht sehr groß, aber eine sportliche Erscheinung. Als er die Gartenpforte
erreicht hatte, schloß er sie nicht auf, sondern sprang mit einem Satz hinüber.
Julia hörte ihn auf französisch etwas zu einem der Dienstmädchen sagen, die Frauenstimme
antwortete, ein Hund bellte, und dann war alles wieder ruhig.
Ich wette, er ist bei den Mädchen im
Dorf Hahn im Korb, dachte Julia.
Der Zwischenfall hatte sie ganz wach
gemacht, und sie hatte sich gerade entschlossen, um das Haus herumzugehen, als
Susan am anderen Ende der Terrasse auftauchte. Julia ging auf sie zu, und erst
als sie beisammen waren — natürlich war Susan viel zu wohlerzogen, um ihr etwas
zuzurufen —, begann Susan zu sprechen.
„Möchtest du jetzt Großmutter begrüßen?
Ich fürchte, ich habe dich lange warten lassen, aber sie war wieder
eingeschlafen.“
„Ich war auch nahe daran“, sagte Julia,
als sie zusammen die Treppe hinaufgingen. „Es ist so idyllisch und friedlich
hier.“
„Hoffentlich wird es dir hier nicht zu
langweilig“, sagte Susan.
„In einer schönen Gegend langweile ich
mich nie“, erwiderte Julia großartig. „Ich schwärme geradezu für eine hübsche
Aussicht.“
Susan lächelte, sah jedoch nicht
besonders überzeugt aus. „Großmutters Zimmer hat die beste Aussicht von allen“,
war alles, was sie entgegnete; dann öffnete sie die Tür und führte Julia
hinein.
*
Mrs. Packett
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