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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
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hatte sehr
gute Manieren. Er war so gut zu mir—“ Julia brach ab; sie konnte ihrer Tochter
unmöglich erzählen, wie gut! Und von der Anstrengung, von Selbstvorwürfen und
einem oberflächlichen, wenn auch aufrichtigen Bedauern überwältigt, tat sie
zufällig das einzig Richtige. Sie senkte den Kopf und brach in Tränen aus.
    „Oh, nicht“, rief Susan reuevoll, „bitte,
bitte nicht!“
    Aber Julia schluchzte weiter. Sie
konnte Sylvester zwar jahrelang völlig vergessen, aber wenn er ihr wieder in
Erinnerung kam, dann gründlich. Er war der beste Mann, den sie je gekannt
hatte, er hatte für sie gesorgt, er hatte ihr seinen Namen hinterlassen und —
wenn sie es gewünscht hätte — den Schutz seines Elternhauses. Er hatte sie
geheiratet! Niemand sonst...
    ...außer Fred, dachte Julia.
    Die Ereignisse des vorhergehenden
Abends — im Casino Bleu und in der Taxe zum Bahnhof — fielen ihr
zusammenhanglos wieder ein. Sie drängte die Erinnerung daran zurück, aber nicht
bevor sie sie, merkwürdigerweise, auf einen Gedanken gebracht hatte.
    „Es ist mir noch etwas von ihm
eingefallen“, schluchzte sie. „Etwas, was wirklich typisch für ihn war. Immer,
wenn er über irgend etwas erregt war, biß er sich auf seinen Daumen. Nicht auf
den Nagel, weißt du, sondern unten am Gelenk.“
    Susan erhob sich hastig.
    „Du wirst jetzt gern den Garten sehen
wollen“, sagte sie unvermittelt. „Nein— du möchtest sicher erst Großmutter
begrüßen. Ich will — ich werde ihr Bescheid sagen. Es ist wunderschön im
Garten. Ich hol’ dich, sobald Großmutter —“
    Ihre Lippen zitterten. Sie schien aufs
Geratewohl draufloszureden. Plötzlich spreizte sie ihre Hände aus und sah sie
mit einer Art kindlicher Ehrfurcht an.
    „Mir haben sie es abgewöhnt, als ich
zehn Jahre alt war“, sagte sie und ging schnell aus dem Zimmer.
     
     
     

7
     
    J ulia tat, worum Susan sie gebeten
hatte. Nachdem sie ihr Gesicht wieder zurechtgemacht hatte — es hatte es sehr
nötig —, ging sie durch die Veranda nach draußen und die alte Steintreppe
hinunter und gelangte so auf die untere Terrasse. Ihr war nicht danach zumute,
sich den Garten genauer anzusehen. Ihr Instinkt mahnte sie, in der Nähe des
Hauses zu bleiben, und ihr Blick fiel sofort auf einen Stuhl unter der Linde.
Er war sehr bequem, und sie schob ihn noch ein Stückchen vorwärts, damit sie
ihre Füße auf die steinerne Brüstung legen konnte. Gemütsbewegungen machten sie
im allgemeinen nicht müde — im Gegenteil, sie möbelten sie auf; aber mit der
Gefühlserregung eben jetzt war es etwas anderes, weil sie ihr nicht freien Lauf
lassen konnte und sie künstlich unterdrücken mußte.
    Du bist eine Närrin! schalt Julia sich
selbst. Hast du denn erwartet, daß sie dir an den Hals fliegen wird?
    Wenn sie ehrlich war, so hatte sie
gerade das erwartet. Nach diesem Brief und ihrer eigenen spontanen Antwort
darauf war das Wiedersehen eben mit Susan eine große Enttäuschung gewesen. Es
waren wohl Tränen geflossen, aber nicht die richtigen Tränen, und Susan hatte
keine vergossen. Sie weint nicht so leicht, dachte Julia, und vor einem fremden
Menschen schon gar nicht... Das war es eben, daß Julia, die nach einem Gespräch
von nur fünf Minuten sich mit einem Trapezkünstler anfreundete, die nach dem
Kauf von einem Paar Schuhen den Verkäufer wie einen Freund behandelte, eine
ganze Stunde lang mit ihrer eigenen Tochter über deren Vater und ihren
Geliebten gesprochen hatte ohne die geringste Vertraulichkeit.
    Ich bin eine Närrin, dachte Julia
wieder. Es liegt nur daran, daß sie so eine vollkommene Lady ist. Und ich
brauche jetzt vor allem etwas Schlaf.
    Sie schlief jedoch nicht, aber die
morgendliche Stille, der Sonnenschein und die würzigen Gerüche, die unten aus
dem Gemüsegarten aufstiegen, beruhigten sie allmählich und heiterten sie wieder
auf. Von ihrem Platz aus konnte sie nicht weiter als bis zu den Dächern des
Dorfes sehen. Sie lag da in einer kleinen, von Bäumen eingeschlossenen Welt,
fremdartig, aber bezaubernd in ihrer malerischen Schönheit. Eine paradiesische
Welt. Julia hatte keinen Blick für Einzelheiten; sie konnte nur solche groben
Farbwirkungen in sich aufnehmen wie das helle, leuchtende Grün der Baumwipfel
und das flammende Rot der Jasminblüten vor der weißen Mauer; aber was sie
genoß, genoß sie ganz. Sie fand die Oleanderbüsche sehr schön — die rosa noch
schöner als die weißen. Sie bewunderte die pretentiöse Vornehmheit der

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