Die vollkommene Lady
Verfügung hatte; aber Susans Sauberkeit war die eines
Bergbachs und ein ebenso wesentlicher Teil von ihr wie ihr hoher Wuchs und ihre
grauen Augen.
Es überrascht mich nicht, daß er
verrückt nach ihr ist, dachte Julia, indem sie, wenn auch nur im stillen, zu
dem verbotenen Thema zurückkehrte. Wahrscheinlich ist er poetisch veranlagt.
Sie stellte ihn sich groß, mager und sehr ernst vor — so die Sorte Mann, die
nur einmal und dann gleich für das ganze Leben liebt; und sie stellte ihn sich
außerdem viel älter vor, als er war, da doch im allgemeinen Männer über dreißig
besonders auf Jungfräulichkeit fliegen. Ich wette, er hält sie für eine Art
überirdisches Wesen, dachte Julia, höchst einverstanden damit.
„Wie möchtest du von mir genannt werden?“
fragte Susan plötzlich. „Du siehst zu jung aus, als daß ich dich Mutter nennen
könnte.“
Es gab Julia einen Stich. Natürlich
wollte sie Mutter genannt werden — hatte sie die lange Reise von England
hierher nicht eigentlich nur aus diesem Grunde gemacht? Sie wollte Mutter
genannt werden, Mumsie, Mummy oder Mum; aber Susans Ton gab ihr deutlich zu
verstehen, daß keine dieser Silben Gnade bei ihr finden würde. Wie vorhin hatte
Susan das wieder hübsch ausgedrückt. Aber hinter diesem Kompliment erriet Julia
ein verlegenes Zurückschrecken, das ihrer eigenen warmherzigen Natur nur schwer
begreiflich war. Anstatt die Frage zu beantworten, sagte sie etwas nachdenklich:
„Du ahnst gar nicht, wie froh ich war,
als ich deinen Brief bekam. Ich weiß, ich habe mich nie so um dich gekümmert,
wie ich es hätte tun sollen — es war meine eigene Schuld; und es machte mich so
glücklich, daß du noch an mich gedacht hast. Ich weiß, wir sind beide
grundverschieden...“
Sie brach ab, denn die Befangenheit
ihrer Tochter war jetzt unverkennbar. Susan war aufgestanden und blickte
angelegentlich zum Fenster hinaus.
„Ich glaube, du hattest völlig recht“,
sagte sie hastig. „Du wolltest dein eigenes Leben leben und hast es getan. Ich
habe durchaus nichts übrig für Menschen, die sich selbst den Ideen anderer
Leute zum Opfer bringen. Wenn du es wissen willst: ich habe dich immer
bewundert!“
„Bist du — bist du glücklich mit ihnen
gewesen?“ fragte Julia besorgt.
„Sehr glücklich. Großmutter ist
unglaublich lieb, und Großvater war’s auch. Und — ich kann nicht dafür, aber
ich weiß, ich habe sie auch glücklich gemacht. Ich habe ihnen wohl irgendwie
über Vaters Tod hinweggeholfen.“ Sie drehte sich wieder um und wandte Julia ein
eifriges Gesicht zu. „Bitte, erzähl’ mir doch von ihm, alles, was du weißt.“
Der Augenblick war gekommen — der
Augenblick der langen, vertraulichen Aussprache zwischen Mutter und Tochter,
auf den Julia so sehr gewartet hatte. Aber anstatt sich zu freuen, wurde ihr
das Herz schwer. Denn als es soweit war, als das Bild Sylvester Packetts in
ihrem Gedächtnis wieder lebendige Form hätte annehmen sollen, entdeckte sie,
daß sie sich seiner eigentlich überhaupt nicht mehr erinnerte.
*
„Er war Oberleutnant bei der Artillerie“,
begann Julia vorsichtig; und verstummte. Es hatte damals so viele Leutnants
gegeben und eine ganze Menge davon bei der Artillerie, und alle waren sich sehr
ähnlich gewesen. Jung, müde, hemmungslos in ihrer Vergnügungssucht und doch
niemals — niemals ganz da. Niemals ganz bei einem, als ob sie einen Teil von
sich irgendwo anders zurückgelassen hätten. Damals konnte man mit einem Mann zu
Abend essen und sich glänzend mit ihm amüsieren, bis er plötzlich dem Blick
eines anderen Mannes begegnete oder ein anderer Mann sich für eine Weile an den
Tisch dazusetzte, und auf einmal waren sie völlig geistesabwesend, und man
selbst war vergessen. Es hatte den Anschein gehabt, als ob der Krieg eine Art
von vierter Dimension wäre, in der sie plötzlich wieder untertauchten, selbst
während sie eine Frau in den Armen hielten... deshalb kannte man sich niemals
in ihnen aus — wenigstens die Julias taten das nicht — und wie konnte man sich
an jemand erinnern, den man eigentlich gar nicht gekannt hatte?
„Laß es, wenn es dir weh tut“, sagte
Susan sanft.
Trotz ihrer Selbstbetrachtung schämte
Julia sich. Sie dachte angestrengt nach.
„Er mochte die Bar von Piccadilly
lieber als die von Murrays“, sagte sie endlich. „Ganz im Gegensatz zu den
anderen. Aber er war überhaupt sehr verschieden von ihnen.“
„Ja?“ warf Susan ein.
„Er war sehr ernst. Und er
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