Die vollkommene Lady
gefunden?“
„Es war eine ganz nette Frau an Bord —
eine Lehrerin, glaube ich“, antwortete Julia.
„Sehr lehrreich“, sagte Bryan
respektvoll. Das war es eben, er war allzu respektvoll. Er erregte damit Julias
Mißtrauen, und im Verlauf der Mahlzeit nahm dieses Mißtrauen zu. Wenn er mit
Susan sprach, wirkte er durchaus natürlich — zärtlich, bewundernd, immer darauf
bedacht, ihr zu gefallen. Sprach er jedoch mit Julia, hatte er trotz seines
ehrerbietigen Tones einen merkwürdigen Ausdruck in seinen Augen.
„Ich schwärme für das Landleben!“ rief
Julia begeistert aus. „Das glaube ich Ihnen gern“, erwiderte Bryan herzlich.
Aber sein Auge sagte — jawohl, es sagte unleugbar: „Ausgerechnet du!“
Susan schien, obwohl ihr Blick
fortwährend zwischen dem Gesicht ihrer Mutter und dem ihres Geliebten hin und
her ging, nichts von dieser stummen Unterhaltung zu bemerken außer ihrer
liebenswürdigen Oberfläche. Vielleicht war dieses heimliche Gespräch der Augen
etwas, was man nur wahrnehmen konnte, wenn man seinen Ursprung erkannt hatte:
die schweigende Vertrautheit von zwei Menschen, die sich völlig fremd sind, die
aber ihrem Wesen nach— sozusagen — aus demselben Stall kommen.
Und als Julia bestürzt bei dieser
Feststellung angelangt war, gab es ihr einen Stich. Ich glaube, er ist genau so
ein Mensch wie ich, dachte sie. Was zum Teufel soll ich jetzt tun?
*
Zunächst mußte sie natürlich zu
ergründen suchen, ob ihr Verdacht berechtigt war. Es war ja möglich, daß sie
sich irrte; aber wenn das der Fall war, dann hatte zum erstenmal in ihrem Leben
ihr untrüglichster Instinkt sie im Stich gelassen. Es war immer ihre große
Stärke gewesen— oft ihre einzige—, daß sie auf den ersten Anhieb sagen konnte,
ein Mensch paßte zu ihr oder nicht: zum Beispiel, welcher von zwei Herren an
einer Bar sie zum Essen einladen und welche Frau auf einer Gesellschaft ihr ein
Nachtquartier anbieten würde. Diesem Instinkt allein hatte Julia es oft zu verdanken
gehabt, daß sie etwas in den Magen bekam und ein Dach über dem Kopf fand. Ihr
so überaus erfolgreiches Zusammenleben mit Mr. Macdermot war die Folge eines
einzigen Blickes gewesen, den sie mit ihm in einem Eisenbahnzug gewechselt
hatte. Zu einer Unterhaltung war es gar nicht gekommen, da das Abteil so
überfüllt gewesen war; aber Julia war sich von vornherein darüber klar gewesen,
daß, wenn sie sich auf dem Bahnhof eng an ihn hielt, irgend etwas geschehen
würde. Und es geschah auch etwas. „Steigen Sie mit ein?“ hatte Mr. Macdermot
gesagt, als sie vor den Taxen standen. „Warum nicht“, hatte Julia nur
geantwortet, und von da ab waren sie vier Jahre lang zusammengeblieben...
Es liegt kein Grund vor, daß ich mich
nicht doch einmal irren könnte, dachte Julia hartnäckig; aber die Antwort ihrer
Tochter, als sie Susan später am Nachmittag fragte, wo sie Mr. Relton zum
erstenmal getroffen habe, berührte sie wie ein schlechtes Omen.
„In einem Zug“, sagte Susan.
Sie sprach ruhig und deutlich — so
betont ruhig und so überdeutlich, daß es selbst Julia auffiel, die — ganz
abgesehen von Mr. Macdermot — in ihrem Leben so viele Bekanntschaften in
öffentlichen Verkehrsmitteln angeknüpft hatte. Diese drei Worte wurden von
Susan ohne Zweifel als eine Hürde betrachtet, die genommen werden mußte. Und
mit dem Mut und der Haltung einer Dame hatte sie die Zähne zusammengebissen und
sie genommen. Aber Julias Ruhe, als sie nun weiterfragte, war völlig natürlich.
„Wie lange ist es her?“
„Ungefähr sechs Wochen. Es war auf
meiner Reise von Straßburg nach Paris, wo ich mich mit Großmutter traf, um mit
ihr hierher zu fahren. Er half mir bei meinem Gepäck, und dann aßen wir
zusammen. Du weißt ja, wie das auf der Reise so ist.“
Ihre Mutter nickte. Das Bild Fred
Genocchios, wie sie ihn zuletzt auf der Gare de Lyon gesehen hatte, winkte ihr
zu, und in ihrem Herzen winkte Julia zurück. Das war Reisen — ein Funke springt
von dir auf einen fremden Mann über, du gibst ihm ein Stückchen deines Herzens
mit und erhältst ein wenig von seinem, dann geht man, in seiner Erinnerung um
so viel reicher geworden, wieder auseinander, und wenn der Fremde zufällig ein
Trapezkünstler ist, behält man zum Andenken noch ein paar blaue Flecke...“
„Und dann“, sagte Julia ermunternd, „bat
er um deine Adresse?“
„Nein“, sagte Susan. „Natürlich nicht.
Aber wir sprachen über Frankreich und seine verschiedenen
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