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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
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der Felsen wie ein
Stein und der Pavillon wie ein Spielzeug. Sein Dach war so spitz wie das Dach
einer Pagode; ein durchreisender Architekt hatte das kleine Gebäude als eine
echte Chinoiserie aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erkannt.
Aber Julias Interesse daran war rein menschlich; was für ein herrlicher Platz
für ein Stelldichein! dachte sie.
    Ob Susan sich wohl hier mit Bryan traf,
wenn im Hause alles schlief und der Mond durch die Nußbäume schien? Aber die
Büsche zu beiden Seiten der Stufen schienen in ihrer Dichte unberührt, Julia
befürchtete ernstlich, daß der Pavillon völlig vereinsamt war. Armes Ding, er
würde sicher sehr glücklich sein, wieder das Geräusch eines Kusses zu hören,
heimliches, unterdrücktes Gelächter und das Geflüster heißer Liebesschwüre...
    Sicher hat er seinerzeit allerlei erlebt,
dachte Julia.
    Dann sah sie wieder auf die Uhr. Sie
hatte genau zwölf und eine halbe Minute dagesessen, sozusagen eine
Viertelstunde. In dieser Hitze noch länger hierzubleiben, konnte gefährlich
werden; sie klappte also ihren Stuhl zusammen und stieg abwärts, dem kühlen
Schatten des Hauses zu.
    Sie war außerordentlich zufrieden mit
sich selbst; aber Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall.
     
    *
     
    Als sie an der Haustür anlangte, fand
sie Susan, Bryan und den Postboten zusammen auf den Verandastufen stehen.
    „Da ist irgendein Irrtum“, sagte Susan
energisch. „Bryan, gib sie sofort zurück!“
    Immer bereit, sich jeder Ansammlung von
Menschen zuzugesellen, hielt Julia an und sah neugierig über Bryans Schulter.
Der Gegenstand, den Susan so heftig zurückwies, war eine bunte, besonders
ordinäre Ansichtskarte.
    „Auf was die Menschen alles kommen!“
begann Julia höchst interessiert; aber im nächsten Augenblick bekam sie einen
Rippenstoß von Bryan. Susan stand mit einem versteinerten, abweisenden Gesicht
da. Wütend über sich selbst und noch wütender über Bryan, weil sie ihm
eigentlich hätte dankbar sein müssen, trat Julia einen Schritt zurück.
    „Vielleicht ist es doch kein Irrtum“,
sagte Susan jetzt.
    Bryan drehte die Karte um, so daß Julia
sie sehen konnte. Sie war an Mrs. Packett adressiert und enthielt eine
zärtliche Botschaft von Fred Genocchio.
    Gegen ihren Willen fühlte Julia, wie
ihr das Blut ins Gesicht stieg, bis sie dastand wie ein blutübergossenes
Schulmädchen. Sie wünschte nichts sehnlicher, als jegliche Beziehung zu der
Karte abzuleugnen; aber gleichzeitig hatte sie das merkwürdige Gefühl, daß sie
damit auch Fred selbst verleugnen würde. Als ob er persönlich hier erschienen
wäre, und sie hätte ihn geschnitten...
    So hin- und hergerissen, brachte sie
kein Wort über ihre Lippen, und schließlich ergriff Susan wieder das Wort.
    „Es ist gut“, sagte sie ruhig zu dem
Postboten, „ich hatte falsch gelesen. Kommst du mit in den Weinberg, Bryan?“
    Wenn auch verärgert, gedemütigt und
bewegt — diese Empfindungen bezogen sich in der erwähnten Reihenfolge auf
Bryan, Susan und Mr. Genocchio — war Julia doch froh, alleingelassen zu sein.
Die Karte lag nun, noch immer ohne eigentlichen Besitzer, auf der steinernen
Brüstung. Julia nahm sie auf und trug sie in ihr Zimmer. Fred hatte nicht viel
geschrieben, nur sieben Worte; aber die ganze Strophe eines Sonetts hätte sie
nicht mehr rühren können. „Ich denke noch immer an dich, Fred.“ Er hatte sie
noch nicht vergessen! Trotz ihrer unglaublichen Hartherzigkeit, mitten in der
Aufregung und der Hast seiner beruflichen Angelegenheiten dachte er noch immer
an sie! In ihrer Dankbarkeit für seine Treue verzieh Julia ihm beinahe die
Taktlosigkeit, ihr eine solche Karte zu schicken. Schließlich war sie gar nicht
so furchtbar, sie war jedenfalls nicht gemein. Wahrscheinlich hatte er sie nur
aufgesucht, um sie ein bißchen aufzuheitern, falls sie in gedrückter Stimmung
wäre.
    Das hat er gar nicht nötig gehabt,
dachte Julia im Kreislauf ihrer Gedanken. Wie kommt er nur darauf, anzunehmen,
daß ich nicht glücklich sei? Pure Einbildung ist das, nichts als Einbildung!
Wahrscheinlich glaubt er, ich heule mir die Augen nach ihm aus.
    Dann setzte sie sich hin und weinte
bitterlich.
     
    *
     
    Von ihrem Platz unter den Pinien aus
beobachtete die alte Mrs. Packett Susan und Bryan, die durch den Weinberg
gingen. Susan ging ein wenig voraus und schritt wie gewöhnlich so leichtfüßig
dahin, als ob ihr die Steigungen des Weges gar nichts ausmachten. Bryan, die
Hände in den

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