Die vollkommene Lady
sie aus London abfuhr, um wieviel schwieriger würde es sein, sie
über eine so weite Entfernung hinweg wieder zum Fließen zu bringen. Man mußte
so etwas persönlich erledigen, man konnte seine Persönlichkeit nicht in einen
Brief stecken, wenigstens Julia konnte das nicht. Man mußte eben dort sein.
Wenn sie jetzt in London wäre, fühlte Julia, würde sie auch den hartherzigsten
Geizhals dazu bringen, ihr Geld zu leihen.
Sie konnte jeden Menschen in der Welt
anpumpen außer Mrs. Packett, außer Susan und außer Bryan Relton.
Aber im Augenblick hatte die Welt für
Julia keine anderen Bewohner.
Und nachdem ihre Gedanken zum
zwanzigsten Male immer wieder denselben Weg gegangen und zu keinem anderen Ergebnis
gekommen waren, fiel ihr auch noch ein, daß sie ja nicht einmal eine
Rückfahrkarte besaß.
*
Oben im Weinberg versuchte Bryan, Susan
in Zorn zu bringen. Der Anlaß war ganz belanglos — eine Meinungsverschiedenheit
über den Titel eines Buches —, aber ihre kühle Würde, ihre vollkommene
Selbstbeherrschung waren eine ständige Herausforderung für ihn. Er wollte sie
einmal aus der Fassung bringen, wollte sie erhitzt und außer sich sehen. Es war
der tiefe Impuls seiner Männlichkeit, sich ihr überlegen zu fühlen, den sie nie
befriedigen würde. Wenn Julia in Bryan den geborenen Verführer sah, so hatte
sie nicht so unrecht, aber sie dachte nur an die physische Seite der
Angelegenheit. Wenn es sich nur um das Körperliche gehandelt hätte — wenn er
Susan dadurch hätte erobern können, daß er ihr durch das halbe Frankreich
nachgereist war—, wäre seine Leidenschaft bald erloschen gewesen. Einen oder
zwei Tage lang hatte die scheinbare Leichtigkeit seines Sieges ihn bereits
gelangweilt und enttäuscht. Er fühlte sich wie ein Mensch, der es sich in den
Kopf gesetzt hat, einen gerade noch erreichbaren Gipfel zu erklimmen, und am
Fuße des Berges eine Drahtseilbahn vorfindet. Glücklicherweise war die
Drahtseilbahn außer Betrieb; obgleich Susan ihn kurz nach seiner Ankunft in der
Villa empfangen hatte, fühlte er sich ihr jetzt eigentlich nur durch das
Bewußtsein verbunden, daß er sich ihr bisher noch nie hatte überlegen fühlen
können.
„Warum kannst du nicht zugeben, daß du
dich geirrt hast?“ fragte Susan geduldig. „Warum kannst du es nicht?“
„Vielleicht habe ich unrecht“, sagte
Susan sofort. „Jedenfalls liegt es auf Großmutters Toilettentisch, und wenn wir
wieder zu Hause sind, werde ich gleich nachsehen.“
So verlief also auch dieser Streit im
Sande. Wie sie es sich vorgenommen hatte, würde Susan nachsehen, und wenn Bryan
recht hätte, würde sie es ihm sofort mitteilen, und falls er sich geirrt haben
sollte, würde sie warten, bis er sie fragte. Sie war eben vollkommen, sowohl
was ihren Gerechtigkeitssinn als was ihre Großmut anbetraf.
„Der Lavendel wird bald blühen“, sagte
Susan, um von etwas anderem zu sprechen.
Sie saßen auf einem hohen Erdwall, den
ein früherer Besitzer der Villa mit Blumenbeeten eingefaßt hatte; aber nur der
Lavendel hatte ihn überlebt und wucherte nun als üppige graugrüne Hecke, deren
pralle Blütenknospen ihren Duft ausströmten, ohne noch ihre blaßblaue Farbe zu
zeigen. Susan richtete sich auf und brach einen Zweig ab.
„Riech mal“, sagte sie und hielt die
Blättchen an Bryans Nase.
Er faßte nach ihrer Hand, hielt sie
fest, rollte sich herum und vergrub sein Gesicht in ihrer Handfläche. Der
Geruch des Lavendels und der Duft von Susans brauner, sonnenwarmer Haut machte
ihm das Blut in den Schläfen summen.
„Susan“, sagte er, „Liebling, ich kann
nicht drei Jahre warten.“
„Das brauchst du auch nicht“, sagte
Susan ruhig.
„Aber wenn sie nicht nachgeben?“
„Sobald ich einundzwanzig bin.“
„Bis dahin sind es ja auch noch acht
Monate.“
„Kannst du nicht acht Monate warten?“
Während einer langen Minute lag Bryan
ganz still. Er dachte an etwas, was Julia gesagt hatte, und überlegte, wieviel
Susan wohl von ihrer Mutter hätte. Nichts, hatte Julia behauptet; aber hatte
sie recht? Was wissen denn Eltern überhaupt von ihren Kindern? Bryans Gedanken
wandten sich seinen Finanzen zu: er besaß noch einen Reisescheck über fünfzig
Pfund — genug, um mit Susan nach Como, nach Rom oder an die Riviera zu fahren...
Er drehte sich um und setzte sich auf.
Das war sein Fehler.
„Susan —“ sagte er.
Er hielt inne. Er hätte sie nicht
ansehen sollen. Mit seinem Gesicht in ihren Händen hätte er
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