Die vollkommene Lady
bemerken. Er starrte schon
eine ganze Weile zum alten grauen Gebäude gegenüber hin — zum oberen, wie es
schien, unbewohnten Teil, der wie das ganze Haus ziemlich verfallen war, aber
eine breite, von drei Säulen getragene Loggia aufwies. Sir William fand den
Anblick merkwürdig reizvoll — wie ein Guckaus über Belley, und im Sommer dort
oben zu frühstücken, unter einem das Geräusch der erwachenden Stadt, weit
hinten die Hügel, das wäre gar nicht...
Sir William ertappte sich bei dem
Gedanken, daß er gern dort oben mit Julia wohnen würde.
Dieser ganz unerwartete Einfall
verwunderte ihn ebensosehr, wie er ihn freute. Er hätte sich einer solchen
jugendlichen Regung nicht für fähig gehalten — in den letzten zwanzig Jahren
hatte er sie wenigstens nicht mehr verspürt. Er glich einem Sportsmann, der
nach langer Krankheit feststellt, daß die alte Gelenkigkeit noch da ist. Und
andere, nicht weniger jugendliche Gedanken folgten dem ersten. Er erinnerte
sich plötzlich an den Marktplatz in Krakau, wo die Blumenverkäuferinnen saßen,
und an die buntbemalten Häuser, die ihn umgaben. Damals war sein Auge, genau
wie jetzt, auf eine kleine hellblaue Dachwohnung gefallen, die wie vergessen
hoch über einem großen gelbgrünen Gebäude thronte, und in Gedanken sah er
heute, nach sieben Jahren, Julia am Fenster der kleinen Wohnung. Ach, es gab
noch so viele schöne Plätze: Paris im Frühling — das klingt fast wie ein
Schlager, dachte Sir William — und die englische Landschaft im Juni und London
im Herbst, wenn die Dämmerung wie blauer Nebel einbrach. Er wußte auch, was
Julia zu allem sagen würde: „Wie schön, William!“ oder „Ich liebe schöne
Aussichten!“ Aber aus irgendeinem Grunde war ihm ihre Gesellschaft gerade
deswegen so lieb, weil ihre Bemerkungen so nichtssagend waren, so komisch. Sie
amüsierte ihn und rührte ihn zugleich...
Darüber kann gar kein Zweifel mehr
bestehen, dachte Sir William, als habe er soeben seine Betrachtungen
befriedigend abgeschlossen. Und dann wanderte seine Phantasie weiter, diesmal
nach dem Süden, zur Riviera.
Susan hatte inzwischen zwei Stück
Nußtorte gegessen und fand es jetzt an der Zeit, eine kleine ernsthafte
Unterhaltung zu beginnen.
Ernsthafte Unterhaltungen waren in der
Villa immer in Gefahr, von ihrem Liebhaber oder ihrer Großmutter unterbrochen
zu werden. Und so begrüßte Susan es von Herzen, daß der Besuch beim Buchhändler
— der keineswegs nur ein Vorwand gewesen war, dazu war Susan zu ehrlich — ihr
eine Gelegenheit verschafft hatte, Sir William einmal für sich zu haben.
„Du hast mir noch gar nicht gesagt“,
unterbrach Susan plötzlich das Schweigen, „was du von Bryan hältst.“
Sir William riß sich von der Loggia los
und zwang seine widerstrebenden Gedanken auf die Erde zurück. „Ist das so
wichtig?“ fragte er.
„Na, hör’ mal“, sagte Susan etwas
überrascht, „natürlich möchte ich gern wissen, was du über ihn denkst.
Immerhin— ich meine —bist du nicht deswegen hergekommen?“
„Das stimmt allerdings“, erwiderte Sir
William mit einer Miene, als ob ihn diese Feststellung überraschte. „Da du’s
dir ja aber schon in den Kopf gesetzt hast, ihn zu heiraten, dürfte eine
Unterhaltung über das Thema nicht viel Zweck haben. Ich glaube, ich trinke noch
eine Tasse Tee.“
Die Augen, die Susan auf die Kanne
gerichtet hielt, während sie den Tee eingoß, hatten einen zugleich wachsamen
und fragenden Ausdruck. Irgendwo vermutete sie zweifellos eine Falle; sie
konnte sich nicht denken, daß ihr Vormund ehrlich und herzlich uninteressiert
war. „Das klingt, als ob du ihn nicht gerade sehr gut leiden magst“, drängte
sie. „Warum?“
„Ich mag ihn und mag ihn nicht — oder
vielmehr weder das eine noch das andere“, sagte Sir William. „Ich sehe keinen
großen Unterschied zwischen ihm und den meisten anderen jungen Leuten. Er hat
Geld und hat etwas studiert, seine Familie ist uns bekannt, und sobald du
einundzwanzig bist, kannst du ihn heiraten, wenn’s dir Spaß macht. Wir müssen
allmählich an die Rückfahrt denken. Bist du fertig?“
Susan erhob sich gehorsam und ging mit
ihm zum Wagen. So gleichmütig und ruhig sie auch aussah, sie fühlte sich doch
nicht ganz sicher, sie wußte nicht recht... In einfachen Worten — in Julias
Worten — war es ihr unangenehm, daß Sir William nicht mehr Trara gemacht hatte.
„Wenn du wirklich einen Einwand...“
begann sie von neuem.
„Hab’ ich aber nicht“,
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