Die vollkommene Lady
schlief schon.
*
Es wäre zwar etwas kitschig, aber auch
sehr passend gewesen, wenn Susan, nach ihrer Rückkehr von Belley, dort oben
vorbeigekommen wäre, ihn entdeckt und mit einem Kuß geweckt hätte. Aber Susan
ging geradenwegs auf ihr Zimmer und packte ihre Bücher aus. Dagegen fiel Julia,
die bei der Ankunft des Autos aus dem Garten geflüchtet war, ganz unromantisch
über seine Beine. Bryan fuhr hoch, rieb sich das Schienbein und erkannte auf
den ersten Blick, daß von Bedauern nicht die Rede sein würde.
„Sie haben sich einen blödsinnigen
Platz zum Schlafen ausgesucht“, sagte Julia. „ Mitten auf dem Weg, damit man
nur ja über Sie stolpert!“
„Wenn man Augen im Kopfe hätte und sie
zu benutzen verstände“, erwiderte Bryan, „dann würde man nicht auf anderen
Leuten herumtrampeln. Ist Susan zurück?“
„Wahrscheinlich. Das Auto ist eben
gekommen.“
„Und Sir William“, sagte Bryan
übertrieben leichthin. „Jetzt haben wir beide wieder Gesellschaft.“
Von seinen spöttischen, neugierigen
Blicken gefolgt, ging Julia ein Stück weiter und setzte sich auf einen großen
Stein. In den Garten wagte sie sich noch nicht wieder, und ihr Hinundherwandern
hatte sie müde gemacht.
„Susan wird Sie suchen“, meinte sie.
„Zweifellos“, bejahte Bryan gleichmütig.
„Ohne den Zaunpfahl geht es wohl nicht. Haben Sie sich hier oben verabredet,
teuerste Julia?“
Julia würdigte ihn keiner Antwort. Und
der junge Mann dachte gar nicht daran, wegzugehen, im Gegenteil, er erhob sich
und kam langsam zu ihr herüber und setzte sich neben sie.
„Wir haben beide eine merkwürdige
Geschicklichkeit“, sagte er freundlich, „Menschen an uns zu ziehen, die uns in
jeder Beziehung überlegen sind.“
„Von wem reden Sie und was meinen Sie,
wenn Sie etwas meinen?“ sagte Julia.
„Bescheidenheit... Sie wissen so gut
wie ich, daß Sir William Ihnen zu Füßen liegt.“
Trotz ihrer jüngsten traurigen
Erwägungen wußte Julia es tatsächlich, tief in ihrem Herzen, und das Bewußtsein
erfreute und beglückte sie. Aber sie hatte nicht die Absicht, Bryan zu ihrem
Mitwisser zu machen.
„Sprechen Sie gefälligst nicht so von
ihm“, sagte sie streng. „Sie sollten ein wenig Respekt vor so einem Mann haben.“
Bryan grinste. „Ach — Sie hat’s auch
erwischt? Kann das an der Luft liegen?“
„Das glaub’ ich nicht“, sagte Julia
ernsthaft. „Hier sind so viele schöne Aussichten und Rosenbüsche. Ich fand das
schon am ersten Morgen, damals, als Sie mich mit dem Gärtner hereinlegten. Und
weiter ist es auch nichts mit Sir William. Er denkt sich gar nichts dabei.“
„Und selbst sein Nicht-Denken ist so
geheiligt? Seien Sie vorsichtig, meine Liebste!“
Julia erhob sich und ging bis ans Ende
der Terrasse. Sie war eine geschickte Lügnerin, aber sie hatte keine Lust, sich
von Bryan ins Gesicht starren zu lassen. Denn — sich selbst durfte sie es doch
eingestehen? — es lag gar nicht an den Rosen. Sie wußte es ganz genau. Sie
wußte es, nicht weil Sir William sie irgendwie besonders ansah, sondern weil er
sie nicht irgendwie besonders ansah — bei Tisch zum Beispiel oder wenn Gäste
anwesend waren. Er wollte es niemand merken lassen — kein Wunder...
„Wenn Sie erst Lady Waring sind...“
sagte er dicht hinter ihr.
Julia drehte sich wütend um. „Seien Sie
ruhig!“
„Wieso? Würden Sie etwa nicht gerne
Lady Waring werden?“
„Nein, das würde ich nicht!“
„Wieso nicht?“ fragte Bryan wieder.
„Weil es mir nicht liegt, eine Lady zu
sein. Oder wenn Sie es noch genauer wissen wollen, weil ich nicht gut genug für
ihn bin — so wie Sie nicht gut genug für Susan sind.“
„Sie würden ihn wirklich abweisen, wenn
er Sie fragte?“
„Jawohl. Was fällt Ihnen übrigens ein,
so mit mir zu reden? Was fällt uns beiden ein, so über ihn zu reden? Aber da
haben Sie es“, sagte Julia halb ärgerlich, halb traurig, „mit mir redet jeder
über alles. Das liegt an mir, ich kann mir niemand vom Halse halten!“
Sie schritt rasch die Terrasse entlang,
bis sie zu dem kleinen Weg kam, der nach oben und nach unten führte. Nach unten
zog sie ihre Bequemlichkeit und das Gesetz des geringsten Widerstandes; aber
unten waren auch Menschen — und Julia hatte zum ersten Male seit langer Zeit
das Bedürfnis, allein zu sein. So wandte sie sich also gegen ihre Gewohnheit
aufwärts. Das wahre Wort, das sie da soeben gesprochen hatte, klang noch
mißtönend in ihr nach; es hatte ihr
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