Die vollkommene Lady
Liebe hatte
sie in einen derartigen Zustand von Schwachsinn versetzt.
Die Unterhaltung am Teetisch war nicht
dazu angetan, ihre Stimmung zu verbessern.
„Hat Susan euch schon von ihrem neuesten
Plan erzählt?’ fragte Mrs. Packett. „Sie will, daß wir alle eine Woche früher
nach London zurückkehren.“
„Wozu?“ fragte Bryan mißtrauisch.
„Um den Umbau des Klubhauses
mitzuerleben, natürlich“, sagte Julia.
„Nicht nur das, meine Liebe“, erklärte
Mrs. Packett. „Sie fände es so sehr nett, wenn wir alle dir beim Suchen nach
einem geeigneten Laden helfen könnten.“
Einen Augenblick war Julia sprachlos.
Sie hätte ihrer Tochter nie so viel Doppelzüngigkeit zugetraut. Aber war es das?
War es nicht eher noch ein Beispiel für Susans bewundernswerte Gabe, mit Takt
und Geschick zu organisieren? Zweifellos dachte sie, ganz ohne Hintergedanken,
daß ihr neuer Plan allen gerecht werden würde. Aber Julia, die in den letzten
Tagen ihre ganze Zeit darauf verwandt hatte, tun Susans Geschick in die
richtige Bahn zu leiten, fand die Entdeckung, daß sie selbst von Susan geleitet
wurde, ziemlich beunruhigend...
„Und ich muß sagen“, fuhr Mrs. Packett
fort, „ich finde den Gedanken an eine ganze Woche in London sehr nett. Wir
könnten ins Theater gehen, Julia. Wenn Susan zu viel zu tun hat, könnten wir
abends gehen. Susan nimmt mich immer nur zur Nachmittagsvorstellung mit, damit
ich abends nicht zu müde werde; aber ich könnte mich ja nachmittags ein wenig
hinlegen.“
„Natürlich wollen wir in die
Abendvorstellung gehen!“ rief Julia, plötzlich ganz gerührt. „Und dann noch in
einen Nachtklub, wenn’s dir Spaß macht!“
Die alte Dame blickte zweifelnd auf. „Wir
müssen mal sehen, ob’s mit dem Nachtklub was wird. Aber wir werden vorher in
einem von den großen Hotels etwas essen. Ein und ein halbes Glas Champagner für
jede vielleicht...“
Bryan piff. „Ich werde am besten mit
euch gehen und auf euch aufpassen“, sagte er. „Mir scheint, ihr werdet jemand
brauchen, der euch vor einer Nacht auf der Polizei bewahrt.“ Julia sah ihn kalt
an. „Du wirst mit Susan zusammen sein“, sagte sie, „im East-End. Fang lieber
bald an zu lernen, mit Desinfektionsmitteln zu gurgeln.“
Und bevor er noch eine Antwort finden
konnte — und bevor sie sich selbst zu stark Mrs. Packetts ausschweifenden
Plänen verpflichtete, erhob sich Julia und ging langsam auf das Haus zu. Die
einfache und furchtbare Wahrheit war, daß ihr alles egal geworden war, was
nichts mit Sir William zu tun hatte. Ehe sie nicht wußte, was Sir William von ihr
erwartete — ehe sie nicht wußte, was er vorhatte, fühlte sie sich wie ein
Schiff ohne Kurs, wie ein Wetterhahn, der auf Wind wartet. Wenn er es wünschen
sollte, daß sie eine Konditorei eröffnete, dann würde ihr sogar das Spaß
machen. Sie konnte irgend etwas tun! Alles, wenn er ihr nur sagte, was! Wenn er
es verlangte, daß sie ins Kloster gehen sollte... Ach wo, die würden mich ja
rausschmeißen, dachte Julia plötzlich wieder vernünftig.
Sie setzte sich in der Halle auf den
nächstbesten Stuhl und versuchte, ihre Vernunft weiter zum Funktionieren zu
bringen. Angenommen, daß er ganz einfach uninteressiert war? Angenommen, daß er
seine Pläne schon fix und fertig hatte und sie überhaupt keine Rolle darin
spielte? Wäre es nicht möglich, daß dieses ihr vollkommenes, glückliches
Beisammensein, das ihr mehr bedeutete als irgend etwas in ihrem Leben, für Sir
William nur eine angenehme Ferienfreundschaft war, so gut und so schlecht wie
jede andere? Dann ist’s aus mit mir, dachte Julia. Dann müßte ich eben zu
grinsen versuchen und es ertragen. Sie versuchte sogleich zu grinsen und fand
es außerordentlich schwierig. Sie kam sich vor wie eine Reklame für eine
Zahnpasta.
Diese Vorstellung und die Angst, daß
jemand durch die Halle kommen könnte, ließ sie aufspringen. Sie hatte keine
Lust, mit einem Gesicht wie eine magenkranke Katze angetrofifen zu werden...
In hundert Jahren wird es sich nicht
ändern, dachte Julia schweren Herzens und ging langsam wieder hinaus, in den
stillen Teil des Gartens, wo selten jemand hinkam.
*
Vier Meilen entfernt in Belley
beendeten gerade Susan und Sir William ihren Tee an einem Tisch vor der
Konditorei. Beide waren recht schweigsam, aber während Susan das Schweigen
peinlich berührte und sie das Gespräch gern fortgeführt oder eigentlich lieber noch
umgelenkt hätte, schien Sir William nichts davon zu
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