Die vollkommene Lady
blitzartig, wie einem fremden Zuschauer, ihr
eigenes Bild gezeigt, das Bild einer Frau, die ihr sehr unsympathisch war. Hätt’
ich doch bloß geahnt... dachte Julia verzweifelt. Wenn sie gewußt hätte, daß —
daß dieses geschehen würde, wie anders hätte sie dann gelebt! Jetzt war es zu
spät, das wußte sie; das Leben, das sie geführt hatte, lag ihr im Blut, war
unauslöschlich ein Teil von ihr geworden. Denn die Sache mit der Reue war
natürlich Quatsch: verschüttete Milch ließ sich durch Reue ebensowenig wie
durch Tränen wieder in den Topf zurückbringen. Man konnte vielleicht die Milch
mit einem Lappen aufwischen und über dem Topf auswringen, aber schmutzig war
sie nun einmal.
Ein Brombeergestrüpp versperrte ihr den
Weg. Julia drängte sich hindurch, obgleich es ihre bloßen Arme blutigkratzte;
sie empfand sogar ein merkwürdiges Vergnügen bei dem Schmerz. Sie war jetzt so
hoch gestiegen wie noch nie zuvor. Der Weg führte auf einen schmalen Absatz und
war so dicht von jungen Bäumen eingefaßt, daß Julia nicht einmal den steilen
Abfall des Felsens zu ihrer Linken bemerkte; er glich einem grünen Korridor mit
der Sonne als Dach.
Hier und da durchbrach ein großer Stein
das Moos, und auf einen von diesen setzte sich Julia. Ihre Beine waren müde,
aber ihre Gedanken arbeiteten mitleidslos weiter, gruben eine nach der anderen
der vielen Szenen aus ihrer Erinnerung hervor, in denen sie eine fragwürdige
Rolle gespielt hatte. Wie oft hatte sie zuviel getrunken und dann etwas getan,
was sie schon am nächsten Morgen bereute! Wie oft hatte sie sich dazu
erniedrigt, sich von Bar zu Bar zu treiben in der Absicht, von irgendeinem
Bekannten oder Unbekannten ein Abendessen zu schnorren...
„Lieber Gott“, betete Julia laut, „laß
ihn niemals etwas erfahren!“ Die Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie
wischte sie ungeschickt mit der ganzen Handfläche fort; und wie sie da weinend
saß, hatte sie eine seltsame Vision von sich selbst, die vielleicht das Bild
von der verschütteten Milch angeregt hatte. Sie sah sich mit einem Krug klaren
Wassers durch eine Menschenmenge schreiten, und sie mußte langsam, vorsichtig
gehen, damit sie nicht einen Tropfen verlor, denn das Wasser war für ihn, und
wenn er sie darum bat, mußte der Krug voll und rein sein. Aber sie ließ jeden
daraus trinken, manchmal, weil sie etwas dafür erhielt, meist jedoch, weil sie
mit den armen halbverdursteten Teufeln Mitleid hatte...
Wie sollte ich denn wissen? fragte
Julia ihren Schöpfer. Lieber Gott, wie konnte ich denn wissen? Ja, wie konnte
denn irgendwer wissen? Wenn man nun den Krug hoch und sicher vor den durstigen
Mündern getragen hatte, und schließlich fand sich niemand, der trinken wollte?
War es da nicht besser, wenigstens ein paar der armen Durstigen getränkt zu
haben? Die seltsame Vision wollte nicht weichen, bis Julia zuletzt das ganze
Geschlecht der Frauen mit Wasserkrügen sich durch ein Gewimmel durstgequälter
Männer bewegen sah; und allen voran schritt ihre Tochter mit einem Gefäß aus
Kristall hoch über ihrem Haupt, hoch über den Häuptern aller.
Ich werde wahnsinnig, dachte Julia ganz
entsetzt. Sie erhob sich eiligst; der Wind strich durch die Baumwipfel, es
rauschte und flüsterte in den zitternden Blättern. Das Geräusch erfüllte sie
mit Schrecken; sie wollte zurück, aber der Gedanke an den schmalen grünen Pfad
war ihr plötzlich furchtbar.
Die Luft schien dunkler geworden zu
sein. Eine volle Stunde würde noch bis zum Sonnenuntergang vergehen, aber schon
fühlte sie das leise Nahen der Nacht.
Mit schnellen, beinahe heimlichen
Schritten begann Julia den Abstieg. So rasch, so blindlings war sie gekommen,
daß der Rückweg ihr jetzt fremd vorkam; zweimal hielt sie zögernd inne. Zweimal
glaubte sie eine Bewegung hinter den Bäumen wahrzunehmen. Ihre Angst vor der
Einsamkeit machte einer Angst vor dem Unbekannten Platz. Sie hatte das Gefühl,
beobachtet zu werden, und dieses Gefühl, das auch diejenigen kennen, die
ständig gewohnt sind, sich im Wald zu bewegen, löste eine Panik in ihr aus. Sie
fing an zu laufen und stolperte und stieß sich an den hervorstehenden Steinen.
Sie schienen ihr an Zahl und Größe zugenommen zu haben, und die Brombeerbüsche
waren dichter und stachliger geworden, sie griffen nach ihr und rissen mit
unzähligen Händen an ihrem Rock.
Mit Mühe machte Julia sich los und lief
weiter, schneller und schneller, vorbei an dem Nußbaumwäldchen, vorbei, ohne es
zu bemerken,
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