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Die vollkommene Lady

Die vollkommene Lady

Titel: Die vollkommene Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margery Sharp
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zeigte ihm auf der Karte von London genau, wo das lag.
Bryan sah sehr muffig drein. East-End — oder seinetwegen auch India Dock Lane —
— war für ihn nicht so sehr eine Örtlichkeit als eine Geistesverfassung.
    „Wenn’s dich nicht interessiert“, sagte
Susan in seine Überlegungen, „dann versuch’ wenigstens nicht, so auszusehen,
als ob...“
    „Natürlich interessiert es mich, wenn’s
dich interessiert.“
    „Eben, was ich gerade sagte. Du bemühst
dich, interessiert zu sein, nur weil ich’s bin.“
    „Sowas nennt man Liebe“, klärte Bryan
sie auf. „Wußtest du das nicht?“
    Zu seinem großen Erstaunen — er hatte
eigentlich einen Dank erwartet — packte Susan ihre Mappen und Sachen zusammen
und schlug ihm einen Spaziergang vor. Sie kletterten hinauf bis auf die Höhen
über Magnieu, zu dem Standbild der Jungfrau, und kehrten durch den Wald zurück.
Die Landschaft war herrlich, die Unterhaltung angenehm leicht. Aber Bryan wurde
das Gefühl nicht los, daß hier ein etwas übermütiger junger Hund ausgeführt
werden sollte.
     
    *
     
    Mr. Bellamy antwortete mit
bemerkenswerter Promptheit. Sir William meinte zu Julia, als er den Umschlag
sah, daß Susan eine unangenehme Viertelstunde bevorstehe. Denn Mr. Bellamy
hatte die Angewohnheit, alles, was ihm nicht paßte, am Rande mit dem Wort „Mist“
zu vermerken. Er war nicht bösartig, tat es wohl nur, um sich etwas Luft zu
machen, und beabsichtigte immer, es wieder auszuradieren, falls das
Schriftstück an den Absender zurückgehen sollte. Aber er war auch vergeßlich,
und die Gewohnheit hatte ihn schon einen philanthropischen Lord gekostet.
    „Susans Vorschläge wird er nicht Mist
nennen“, sagte Julia aufgebracht, „denn sie sind bestimmt nicht Mist.“ Und
damit hatte sie auch recht: Susan erschien im Garten mit einem strahlenden
Gesicht.
    „Ein Kompliment!“ rief sie beinah
ausgelassen. „Mr. Bellamy sagt, ich sei die erste Frau, mit der er zu tun
gehabt hat, die wenigstens einen durchschnittlich gesunden Menschenverstand
besitzt.“
    Julia sah ihre Tochter mit Staunen an.
Wenn Susan darin ein Kompliment entdecken konnte!
    „Du kannst dich mächtig geschmeichelt
fühlen“, sagte Sir William. „Ich bin überzeugt, daß noch niemand ein größeres
Lob von ihm bekommen hat.“
    „Der Ankleideraum für Frauen hat es ihm
angetan“, fuhr Susan fort. „Ich hatte fast noch einmal so viel Schränke darin
vorgesehen, ohne daß dadurch eine Überfüllung entsteht. Nächsten Monat fangen
sie schon mit dem Umbau an, schreibt Mr. Bellamy, und wenn ich zu der Zeit in
London sein sollte, möchte ich ihn doch aufsuchen.“
    „Es tut mir wirklich leid, daß du dann
nicht dasein kannst“, sagte Sir William. „Du hättest ihn vielleicht davon
abhalten können, den Architekten anzufluchen. Bisher haben wir noch keine
Beleidigungsklage gehabt, aber ich erwarte jetzt schon täglich eine.“
    Susan sah nachdenklich in den Garten
hinaus. Ihr sehnlichster Wunsch stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben,
daß Julia nur wieder staunen konnte. Nach ihrem Ausdruck zu schließen, hätte
man annehmen können, daß sie an den ersten großen Ball des Jahres oder an ein
neues Abendkleid dachte. Es war sehr merkwürdig, aber auch wieder recht
ermutigend. Und sobald Susan gegangen war — sie hatte nie viel Zeit zum
Herumstehen, sie hatte so viel zu erledigen—, setzte Julia sich mit einem
mütterlich zufriedenen Lächeln hoch.
    „Wie ist er denn, William?“
    „Wer, Liebling?“
    „Na, dieser Bellamy natürlich! Für den
Susan sich so interessiert.“
    Sir William sah sie anerkennend an. „Deine
Schlußfolgerungen sind bewundernswert, Julia. Hast du schon einmal in der
Kirche geweint?“
    „Ganz entschieden nicht“, erwiderte
Julia. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht bei einer Hochzeit geweint.“
Sie hielt einen Augenblick inne und fügte dann ehrlich hinzu: „Ich bin
allerdings auch nicht auf vielen Hochzeiten gewesen. Irgendwie scheinen die mir
immer aus dem Weg zu gehen.“ Hier mußte sie wieder einhalten, und eine feine
Röte breitete sich— zum ersten Male seit zwanzig Jahren — über ihr Gesicht.
Schrecklich, wenn er jetzt dachte — wenn er glaubte, daß sie meinte —!
    „Meine Liebe —“ fing Sir William an.
    „Also Bellamy“, unterbrach Julia eilig,
„wie ist er?“
    Sir William war taktvoll. „Ein
unordentlich aussehender Bursche“, sagte er, „unverheiratet, etwa dreißig. Zu
ehrlich, um beliebt zu sein, und sehr

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