Die vollkommene Lady
an dem verfallenen Pavillon. Sie war gerettet, aber sie wußte es
nicht, als sich plötzlich eine große Gestalt ihr in den Weg stellte — mit einem
Schrei höchsten Schreckens fiel sie vorwärts und Sir William in die Arme.
„Ich dachte, du bist ein Gespenst“,
schluchzte Julia. Das Gefühl seiner Jacke an ihrer Wange gab ihr ein so
gesegnetes Empfinden von Geborgensein, daß sie sich noch enger an ihn
klammerte, bis der grobe Stoff ihre Haut fast schmerzte.
Eine Weile sagte Sir William nichts,
und Worte waren auch nicht notwendig. Sein starker Arm, der wie ein sicherer
Schutz gegen die dunklen Mächte um ihre Schultern lag, genügte ihr. Julia
machte sich so klein, wie sie konnte, in seiner Umarmung und segnete ihn aus
vollem Herzen.
„Hat dich etwas erschreckt?“ fragte er.
„Nein“, schluchzte Julia. „Es war gar
nichts. Ich — ich bin zu dumm — ich bin zu lange dort oben geblieben und bekam
plötzlich Angst. Ich weiß nicht, warum.“
„Man kann da nichts pflanzen“, sagte
Sir William ganz ruhig, als wenn damit alles erklärt würde.
„Komm, wir wollen gehen, damit du nicht
kalt wirst.“
Aber er rührte sich nicht und Julia
auch nicht. Sie bog nur ihren Kopf zurück, um seinen Kuß entgegenzunehmen.
*
„Das hab’ ich schon lange tun wollen“,
sagte Sir William.
„Warum hast du’s denn nicht getan?“
fragte Julia voll ehrlicher Neugierde.
Sie waren ein kleines Stück gegangen,
nicht weit, nur gerade aus dem Wald heraus, wo die Rosenbüsche, die die
Terrasse begrenzten, sie noch vor Sicht gegen das Haus schützten.
„Ich bin schon so lange nicht verliebt
gewesen“, sagte Sir William, „und der Zustand macht einen nervös.“
Julia lachte laut auf, teils aus reinem
Glücklichsein, teils vor Erstaunen. Daß sie jemand nervös machen konnte, war so
merkwürdig und auch so köstlich, daß sie es kaum zu glauben vermochte. Obgleich
sie lachte, weiteten sich ihre Augen, und sie hielt Sir William am Rock fest
und bat ihn, die erstaunliche, beseligende Äußerung zu wiederholen.
„Aber warum nur, William? Weswegen
solltest du nervös sein?“
„Ich hatte Angst, alles zu verderben.
Ich dachte, du würdest mich abweisen.“
Julia stand ganz still. Ihn abweisen?
Wußte er denn nicht, daß er alles von ihr haben konnte? Oder meinte er — sollte
er etwa —? Eben das meinte er. Es war zwar ein Wunder, aber nichtsdestoweniger
geschah es doch. Einen Augenblick später hatte Sir William sie in einfachen,
eindeutigen Worten gebeten, seine Frau zu werden.
„Nein!“ rief Julia beinah heftig. „Nein,
niemals! Woran denkst du?“ Und sie riß sich von ihm los und flüchtete den Weg
entlang.
20
J ulia schützte Kopfschmerzen vor, um
nicht zum Essen hinuntergehen zu müssen, und aß einen kleinen Teller Suppe auf
ihrem Zimmer. Dort suchten sowohl Susan wie Msr. Packett sie voll Besorgnis
auf. Wenn die wüßten, dachte Julia und schluckte ohne Widerrede die empfohlene
Tablette; aber ganz offensichtlich war noch nicht der leiseste Verdacht in den
anderen wach geworden. Sie verbreiteten sich im Gegenteil des längeren über die
gewittrige Schwüle, der sie die Schuld beimaßen, und rieten zu einem geruhsamen
Abend oder besser noch einem frühen Zubettgehen.
Julia sagte zu allem Ja und konnte kaum
den Augenblick erwarten, an dem sie wieder allein war, um — wieder nach altem
Vorbild — in Tränen auszubrechen. Es war nur ein kurzer Wolkenbruch, aber er
beruhigte sie. Sie badete sich das Gesicht, setzte sich ans Fenster und
versuchte, ihre Position zu überprüfen und womöglich zu befestigen.
Sie hatte Sir William abgewiesen. Diese
Tatsache verdeckte zunächst einmal alles andere wie eine riesige schwarze
Wolke. Sie hatte Sir William abgewiesen. Ihre Handlung war nichts als eine
unwillkürliche Reaktion gewesen, aber sie dachte nicht einen Augenblick daran,
die Richtigkeit dieser Entscheidung in Zweifel zu ziehen. Sie hatte Zeit genug
gehabt, während ihres Gesprächs mit Bryan und während ihrer Trauerwache auf dem
Felsen, das Für und Wider zu erwägen — die Entscheidung war gefallen, ihr
Entschluß unabänderlich. Sir William hatte sie in seiner gesegneten
Unwissenheit und Ehrlichkeit gebeten, ihn zu heiraten; Julia konnte nur Nein sagen,
wollte sie nicht noch tiefer sinken.
Wie hab’ ich es bloß fertiggebracht?
dachte Julia, den Kopf auf das Fensterbrett gesenkt. Wahrscheinlich, weil es so
unerwartet kam. Aber die Überzeugung, daß ihre Entscheidung auch
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