Die Waechter der Teufelsbibel - Historischer Roman
aus dem Takt gebracht werden konnte.
»Ihr braucht einen Sündenbock, das ist alles«, sagte er.
Vlach richtete sich auf, fünf Fuß in Freundschaft empörtes Gutmenschentum. »Sie kennen mich nun doch schon so lange!«, rief er.
Fast so lange, wie ich hierherkomme, dachte Andrej, aber auch lange Routine schützt nicht vor Überraschung, nicht wahr? Er hatte heute schon eine Überraschung erlebt: Leona war nicht da gewesen. Wann immer Andrej in Brünn haltmachte, gehörte ein Besuch bei Leona üblicherweise dazu. Er pflegte fünf Pfund Korrespondenz bei ihr abzugeben und nahm sieben Pfund mit – alles von und für Agnes Khlesl. Leona war einmal Agnes’ Kindermädchen gewesen, dann ihre Magd. Nachdem Cyprian und Agnes geheiratet hatten, hatte auch das alte Mädchen noch ein spätes Glück gefunden und einen Handwerker aus Brünn zum Mann genommen. Ihrer Verbindung waren keine Kinder entsprungen. Aber als Leona vor drei Jahren zur Witwe geworden war, hatte sie ein halbwüchsiges Mädchen aus dem Prämonstratenserinnenkloster bei sich aufgenommen, eine strahlende, ständig fröhlich lachende Schönheit. Das Mädchen hieß Isolde und war die wunderhübsche Hülle eines Menschen, dem das Schicksal jeglichen Verstand versagt hatte, der über den eines kleinen Kindes hinausgegangen wäre. Leona liebte sie abgöttisch, und Isolde liebte Andrej, seit er angefangen hatte, ihr bei jedem Besuch Geschichten zu erzählen. Irgendwie schien es Andrejs Bestimmung zu sein, gestörten Persönlichkeiten mit seinen Geschichten Glück und Frieden zu bringen. Vor zwanzig Jahren war es Kaiser Rudolf gewesen – heute Isolde. Ein Abstieg … Dafür war Isolde mit seinen Märchen zufrieden und wollte nicht immer wieder von dem Tag hören, an dem Andrejs Eltern ihrer Suche nach der Teufelsbibel zum Opfer gefallen waren.
»Und ich kenne Sie ebenso gut wie Sie mich«, sagte Vilém Vlach. »Deshalb weiß ich, dass Sie der Richtige sind.«
»Was immer hier passiert ist und wozu Sie mich auch alsÝBeraterÜ benötigen, ich bin sicher, dass es entweder der protestantischen oder der katholischen Fraktion ein Dorn im Auge ist. Wahrscheinlich beiden. Und welche Entscheidung auch immer fallen wird, wenn Sie alle nachher sagen können, jemand von außerhalb der Stadt habe daran großen Anteil gehabt, dann haben Sie eine gute Chance, die Ruhe hier weiterhin zu bewahren – und das Haus ÝWiegant & KhleslÜ eine noch größere Chance, in Brünn nie mehr Geschäfte zu machen.«
»Die meisten Geschäfte machen Sie mit mir, von daher haben Sie nichts zu befürchten«, erklärte Vlach.
»Vilém, Sie bringen mich in eine verteufelte Lage. Warum tun Sie das?«
»Weil es wichtig ist.«
»Für wen? Für Sie? Für den Landeshauptmann? Für den Kaiser?«
»Für ein armes Schwein, das sonst hingerichtet wird«, sagte Vilém. Er hielt den Türflügel immer noch auf. »Bitte.«
»Was? Ich dachte, es geht um eine Kreditsache oder um eine ausbleibende Zahlung oder um schlechte Ware …«
»Lieber Herr von Langenfels«, sagte Vilém, »ich weiß, Sie meinen es nicht böse, wenn Sie uns unterstellen, mit solchem Kinderkram nicht intern fertig zu werden.«
Andrej funkelte ihn an, aber er brachte es nicht über sich, wirklich wütend auf den kleinen Kaufmann zu sein.
»Worum also geht es hier? Um Hochverrat? Um Totschlag? Was wollen Sie von mir? Soll ich raten, jemanden freizusprechen, der ein Verbrechen begangen hat?«
Vilém seufzte. Er machte das Gesicht, das er immer machte, wenn er einen Handel zum Abschluss bringen wollte und sich um die Hoffnung betrogen sah, dass sein Gegenüber sich rupfen ließ. »Kommen Sie schon herein, beim heiligen Kyrill!«, sagte er ungeduldig. »Das ist nichts, worüber man sich in der Gasse unterhält.«
Andrej sah unwillkürlich zum Giebel der Portalrahmung am Rathauseingang auf und zur Statue der Gerechtigkeit, die sich zu dem verkrümmten Giebeltürmchen über ihrem Haupt umwandte. Er wusste um die Legende dieser architektonischen Merkwürdigkeit, und sie rief Beklommenheit in ihm wach, während er seinem Geschäftspartner durch die finstere Wagenzufahrt in einen weiten Innenhof folgte. Vlach führte ihn eine breite Treppe nach oben.
Andrej kannte den großen Herrensaal im Brünner Rathaus mit der gemalten Gerichtslinde in der einen Ecke, aber zu seiner Überraschung bog Vilém davor ab und führte ihn in einen mangelhaft beleuchteten Gang.
»Mir wäre es lieber, der Stadtrichter würde es Ihnen sagen, aber
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