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Die Wächter von Jerusalem

Die Wächter von Jerusalem

Titel: Die Wächter von Jerusalem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf.
    Omar hatte Recht, er durfte jetzt nicht zornig werden. Was auch immer Ibrahim tat, es war nur ein Versuch, ihn zu provozieren, damit er ihn bestrafen konnte. Er durfte dem Meister keinen Grund dafür geben.
    »Deine Kiste, Rashid«, sagte Ibrahim, und seine Stimme klang immer noch sanft und freundlich.
    Rashid atmete tief ein, kniete sich vor seinem Bett nieder und zog die Kiste hervor. Ibrahim klappte den Deckel auf. Dann hob er die Kiste mit beiden Händen hoch und drehte sie einfach um, sodass sich ihr gesamter Inhalt in der Mitte des Schlafsaales auf dem Boden ergoss – seine Kleidung, das neu gekaufte Rasiermesser, seine aus Holz geschnitzten und schön bemalten Schachfiguren. Ein Fläschchen mit Myrrhetinktur, die er immer benutzte, wenn er sich beim Rasieren schnitt, zersprang in tausend Scherben, dem schwarzen König platzte der Kopf ab. Ungerührt schob Ibrahim die Sachen mit den Fußspitzen herum, hob den einen oder anderen Gegenstand auf, um ihn genauer zu betrachten, und ließ ihn dann wieder fallen.
    Rashid ballte die Fäuste. Er kochte vor Wut, und er wusste, dass er sich nicht mehr lange würde zurückhalten können. Bald würde der Zorn über ihn hinwegrollen und jede Vernunft und jeden klaren Gedanken mit sich reißen wie eine mächtige Flutwelle.
    Ibrahim stellte sich vor Rashid und betrachtete ihn mit zur Seite geneigtem Kopf und zusammengekniffenen Augen.
    »Zieh dich aus, Rashid«, sagte Ibrahim. Ein lauernder Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Alles.«
    In Rashids Ohren rauschte das Blut, ihm war heiß, als würde er vor der Glut eines Töpferofens stehen. Er hörte, dass Omar den Atem einsog, und er sah die geweiteten Augen in seinem bleichen Gesicht, die ihn über Ibrahims Schulter hinweg angstvoll anstarrten. Omar schüttelte den Kopf, jetzt nicht mehr verstohlen, sondern heftig, und seine Lippen bewegten sich, als würde er himmlische Hilfe herbeiflehen. Rashid zitterte.
    Tu es, raunte ihm die Stimme der Vernunft zu. Tu es, lass dich nicht von ihm provozieren. Du würdest ihm nur einen Gefallen erweisen. Er will dich reizen, damit er dich bestrafen kann. Wenn du ihn besiegen willst, dann tu, was er verlangt.
    Rashid schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Manchmal half es ihm dabei, seinen Zorn zu kontrollieren. Manchmal – aber auch jetzt?
    »Rashid?« Ibrahims Stimme, so sanft, so freundlich, so frohlockend angesichts des nahen Triumphes. »Das ist ein Befehl . Zieh dich aus!«
    Im Saal war es so still, dass man eine Nadel hätte zu Boden fallen hören können. Alle Kameraden schienen die Luft anzuhalten . Auch wenn er es nicht sehen konnte, so wusste er, dass ihre Augen auf ihn gerichtet waren. Der Zorn stieg in ihm hoch wie glühende Lava. Wenn es ihm nicht gelingen würde, ihn zurückzuhalten, würde es ein schlimmes Ende nehmen. Diesmal würde er Ibrahim töten.
    Rashid öffnete die Augen. Sein Kopf wurde plötzlich klar, erschreckend klar. Es war die Ruhe vor dem Sturm, das Sammeln der Kräfte, die in wenigen Augenblicken entfesselt würden . Omar betete immer noch still vor sich hin, während seine Hand an den Griff seines Säbels ging. Würde er ihn mit dem Säbel niederstrecken, um ihm den Henker zu ersparen, oder würde er ihn nur verletzen? Es war ihm gleichgültig. Was auch immer mit ihm geschehen würde, zuerst würde es Ibrahim ereilen und … Anne! Plötzlich sah Rashid ihr Gesicht vor sich, ihre Augen, ihr strahlendes Lächeln. Wenn er sich jetzt zum Mord an Ibrahim hinreißen ließ, würde nicht nur Ibrahim den endgültigen Sieg davontragen. Er würde sie nie wiedersehen können, sie nie mehr in seinen Armen halten. Nein, der Preis war eindeutig zu hoch.
    Langsam zog Rashid sich aus, ein Kleidungsstück nach dem anderen, bis er schließlich nackt vor dem Meister der Suppenschüssel stand und ihm in die Augen sah. Dunkle Augen, in denen unverhohlene Wut und unbändiger Hass loderten. Auch die letzte Spur eines Lächelns war jetzt vom Gesicht des Meisters verschwunden.
    »Rashid!«, sagte Ibrahim leise. Er rollte das »R« dabei so, dass es klang wie das wütende Knurren eines Löwen. Er zog seinen Säbel und bohrte die Spitze in Rashids Kinn, sodass er den Kopf in den Nacken legen musste. »Diesmal hast du Glück, Bursche, mehr Glück, als du verdienst. Aber eines Tages, das verspreche ich dir, eines Tages kriege ich dich!« Er trat einen Schritt zurück und steckte den Säbel wieder in die Scheide. »Zusatzdienst zu

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