Die Wächter von Jerusalem
leise trat sie auf die Straße hinaus. Vorsichtig schaute sie sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, keine Katze, kein Mensch, kein Janitschar. Nichts. Wie nahe war sie der Entdeckung gewesen ! Und das nur, weil sie an diesem Tag Würste zubereitet hatte, Würste, wie ihr Herr sie liebte – mit Knoblauch und Rosmarin und Thymian gewürzt, so wie man sie in ihrer Heimat aß. Nicht einmal im Traum hätte sie es für möglich gehalten , dass dieser Geruch noch an ihren Kleidern haften würde und sie verraten könnte. Und doch war sie gerettet worden.
Vor Erleichterung wurden ihre Knie schwach, und sie musste sich gegen die Mauer lehnen, um nicht mitten auf der Straße niederzusinken. Sie hob das Kreuz an die Lippen, um es aus Dankbarkeit zu küssen. Und da sah sie es – genau in der Mitte der Fassung fehlte ein Stein, sie hatte einen der wunderschönen Amethyste verloren. Er musste beim Aufprall auf der Straße herausgefallen sein. Elisabeth ließ sich stöhnend auf die Knie nieder und suchte überall, aber der Stein war verschwunden . Ob es der Amethyst gewesen war, den der Janitschar aufgehoben hatte? Eine Weile blieb Elisabeth unschlüssig stehen und trauerte dem verlorenen Edelstein nach. Dann setzte sie ihren Weg fort so schnell sie konnte. Sie hatte bereits viel Zeit verloren. Wenn sie sich nicht beeilte, hatte die Versammlung schon begonnen, bevor sie die alten Steinbrüche von König Salomon erreicht haben würde.
Keuchend gelangte Elisabeth zu dem verborgenen, direkt an der Stadtmauer liegenden Eingang, der in den Steinbruch führte . Niemand wusste mehr, ob es wirklich König Salomon gewesen war, der die Stollen hatte graben lassen. Aber der Überlieferung nach waren hier die Steine für den Bau des Tempels geschlagen worden. Der alte Steinbruch bestand aus hunderten , vielleicht sogar tausenden von Stollen und Höhlen, die sich miteinander zu einem undurchschaubaren Labyrinth verwoben , das sich weit unter der Stadt und sogar jenseits der Stadtmauern erstreckte. Doch obwohl sich die Steinbrüche als Versteck oder Behausung eignen mochten, waren sie weitgehend verlassen. Eine Hand voll Höhlen wurden von Öl- und Weinhändlern als Lagerräume genutzt, aber viele Stollen waren im Laufe der Jahre eingestürzt. Wer sich hier unten nicht auskannte, war verloren. Leicht konnte man sich in dem Gewirr verirren und nie wieder hinausfinden oder in eines der vielen Löcher fallen, die sich urplötzlich vor den Füßen zu öffnen schienen wie die Rachen von riesigen Würmern, die nur darauf warteten, unliebsame Eindringlinge zu verschlingen. Einige dieser Löcher waren mit losen Brettern abgedeckt, doch viele davon waren alt und morsch und dienten lediglich dazu , den Unkundigen in trügerischer Sicherheit zu wiegen. In Wahrheit waren es tödliche Fallen.
Unter Stöhnen hob Elisabeth die hölzerne, mit den daran befestigten Strohmatten gut getarnte Luke hoch. Vor ihr öffnete sich ein schwarzes, finsteres Loch. In der Dunkelheit konnte sie gerade die ersten zwei Sprossen der Leiter erkennen . Elisabeths Herz schlug schnell, und ihre Hände zitterten, als sie die Luke hinter sich zumachte und in völliger Finsternis die Leiter in die Tiefe hinabstieg. Als sie unten angekommen war, tastete sie unter einem losen, scheinbar vergessenen Stapel Bretter nach einer der Fackeln, die die Brüder und Schwestern dort immer versteckten. Sie besuchte Pater Giacomos Versammlungen zwar bereits seit einigen Monaten, doch bisher war sie stets anderen Brüdern und Schwestern am Eingang zum Stollen begegnet, mit denen sie gemeinsam zur Höhle gegangen war, ihrem geheimen Versammlungsort. Diesmal war sie zu spät dran. Niemand war zu sehen, und jetzt war ihr angst und bange vor dem Weg, der sie durch die verschlungenen Gänge der Steinbrüche zu der Höhle führen würde. Wenn sie sich nun nicht mehr erinnerte? Wenn sie eines der von Bruder Stefano hinterlassenen geheimen Zeichen übersah und den falschen Weg einschlug, wenn sie sich nun in der Richtung irrte?
»Betet und hofft, dann wird der Herr euch immer beistehen.« Das waren Pater Giacomos Worte. Leise murmelte Elisabeth ein Gebet. Das Echo ihrer Stimme klang schaurig, wie es von den rauen Wänden des Steinbruchs zurückgeworfen wurde. Es klang, als wollte ein unheilvoller Geist sie verhöhnen . Elisabeth schluckte und betete stumm weiter. Endlich hatte sie eine Fackel gefunden und zündete sie umständlich an. Ihre Hände zitterten vor Aufregung. Zu der Furcht vor dem
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