Die Wächter von Jerusalem
Labyrinth gesellte sich nun auch die Erregung, schon bald wieder Pater Giacomos Stimme zu hören, ihm wieder gegenüberzustehen . Dieser Mann war ein Mann Gottes, ein Heiliger, davon war Elisabeth fest überzeugt. Er war beseelt von dem Wort des Herrn. Seine Stimme, seine Augen, seine Gesten … Mit jeder Faser seines Körpers diente er dem Herrn Jesus Christus. Seine Worte hatten Macht, und sie klangen wie die eines Propheten, so als hätte er dem Herrn Jesus Christus einst leibhaftig gegenübergestanden und von Ihm selbst seine Sendung erhalten. Sie wollte seine Predigt nicht versäumen. Unter gar keinen Umständen.
Elisabeth packte die Fackel fester und schritt voran. Immer den Wegweisern nach, die Bruder Stefano, der Vertraute und ständige Begleiter von Pater Giacomo, überall hinterlassen hatte. Wer diese Zeichen fand und zu deuten wusste, konnte den Weg zum geheimen Versammlungsort leicht finden. Doch keiner, der nicht eingeweiht war, hätte ihnen wohl eine Bedeutung beigemessen – ein Wachsfleck auf einem Stein, ein in den Sand gezeichneter Fisch, dessen Kopf in die richtige Richtung wies, ein Stock in der Form des Kreuzes. Einige dieser Zeichen sahen aus wie zufällig dort hingefallen, andere, als hätten spielende Kinder sie hinterlassen. Selbst Elisabeth fand einige von ihnen nur, weil sie von ihrer Existenz wusste. Es waren insgesamt vierzehn Zeichen. Jedes von ihnen symbolisierte eine der Stationen auf dem Leidensweg des Herrn Jesus Christus. Elisabeth hielt an jedem Zeichen inne, um zu beten. Und dann erreichte sie endlich den letzten schmalen gewundenen Gang, der zur Höhle führte.
Schon von weitem hörte sie das Murmeln vieler Stimmen. Die Versammlung schien noch nicht begonnen zu haben, denn die Stimmen sprachen durcheinander. Elisabeth löschte ihre Fackel und ließ sich nur noch von den zahlreichen Stimmen leiten. Schließlich fiel Licht aus der Höhle in den Gang. Und dann war sie endlich am Ziel.
Zu ihren Füßen, einen nicht allzu steilen Abhang hinunter, erstreckte sich eine Höhle, groß und schön wie eine jener Kirchen , die sie noch aus ihrer Heimat kannte. Tropfsteine hingen von den Decken und an den Wänden herab und bildeten Seitenaltäre , Säulen und Nischen, in denen Kerzen brannten. Manche sahen sogar aus wie die Figuren von Heiligen. Es war ein Wunder. Und nicht nur Elisabeth war davon überzeugt, dass Gott selbst sich hier einen Raum der Andacht und des Gebets erschaffen hatte. Ein halbes Dutzend Fackeln steckten in Wandhaltern, die in der ganzen Höhle verteilt waren. Auf den wie steinerne Bänke aussehenden Felsen saßen Männer und Frauen. Einige von ihnen hatten sogar ihre Kinder mitgebracht , um sie von Pater Giacomo segnen zu lassen. Es waren mehr als das letzte Mal. Viel mehr. Elisabeths Herz tat einen Sprung vor Freude. Jedes Mal kamen mehr Brüder und Schwestern zu ihrer Versammlung. Pater Giacomos Botschaft breitete sich in Jerusalem aus, so wie sich damals das Evangelium ausgebreitet hatte. Ihr lief ein Schauer der Ehrfurcht über den Rücken. So schnell sie konnte eilte sie die steinernen Stufen hinunter, die vor vielen hundert Jahren durch die Hand Gottes entstanden sein mochten. Sie ging an den Brüdern und Schwestern vorbei, begrüßte die, die sie kannte, und nickte jenen zu, die in dieser Nacht das erste Mal dabei waren. Endlich fand sie Hannah, ihre Freundin.
Hannah war Köchin im Hause eines Kaufmannes aus Cordoba. In diesem Haus hatten Pater Giacomo und sein Vertrauter Bruder Stefano nach ihrer Ankunft in Jerusalem Unterschlupf gefunden. Sie war eine der Ersten gewesen, die in den Genuss seiner Worte gekommen war. Und sie war es auch gewesen , die Elisabeth vor einigen Monaten zum ersten Mal zu einer der Versammlungen mitgenommen hatte.
»Elisabeth! Der Friede sei mit dir!«, rief Hannah aus, und die beiden Frauen umarmten sich und küssten einander auf die Wangen. »Du kommst spät heute. Ich fürchtete schon, dir sei etwas zugestoßen.«
»Um ein Haar wäre es auch der Fall gewesen«, entgegnete Elisabeth und ließ sich keuchend auf dem breiten Stein neben ihrer Freundin nieder.
»Hat dein Herr dich nicht gehen lassen?«
Elisabeth schüttelte den Kopf. »Nein, es waren Janitscharen. Beinahe hätten sie mich entdeckt.« Sie hob die Hände. »Aber der Herr hat mich vor ihnen beschützt. Doch eine ganze Weile habe ich nicht gewagt, mein Versteck zu verlassen. Ich fürchtete schon, ich käme zu spät.«
»Du bist noch rechtzeitig. Auch Pater Giacomo ist
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