Die Wächter von Jerusalem
konnte. Natürlich war Cosimo ein wenig verrückt – unkonventionell in seinen Gedanken und seinem Geschmack wie ein Künstler –, und ohne Zweifel war er in mehr als einer Hinsicht seiner Zeit um Jahrhunderte voraus. Aber war er auch wahnsinnig, psychotisch, schizophren? Nein, das konnte man wirklich nicht behaupten.
»Bitte, seid vorsichtig, Signorina Anne«, sagte er leise.
Sie legte ihm lächelnd eine Hand auf den Arm. In diesem Augenblick spürte sie, dass sie ihn mochte.
»Seid gewiss, Cosimo, ich werde Eure Warnung beherzigen «, erwiderte sie. »Denn vergesst eines nicht, ich bin hier, weil ich meinen Sohn suche. Und dieses Ziel werde ich bestimmt nicht aus den Augen verlieren.«
Sommernachtstraum
Es war mitten in der Nacht. Anne lag in ihrem Bett und konnte nicht schlafen. Obwohl Mitternacht bereits längst vorbei sein musste, war sie noch nicht einmal müde. Sie lag einfach da, eingehüllt in die leichte seidene Decke, und starrte den Baldachin über ihrem Bett an. Es war derselbe Baldachin, den sie in Florenz im Haus von Giuliano über ihrem Bett gehabt hatte. Cosimo musste ihn aufbewahrt haben. Warum? Hatte er gewusst , wann und wo er sie wiedersehen würde?
Doch Annes Gedanken wurden immer wieder von einem Gesicht abgelenkt, das sich aus dem Muster der eingestickten Sterne formte – einem Gesicht mit blauen Augen und dem Lächeln eines Oscarpreisträgers. Rashid. Gab es das? Gab es Liebe auf den ersten Blick? Sie hatte ihn erst zweimal gesehen, und das auch noch an ein und demselben Tag. Sie wusste von ihm kaum mehr als seinen Namen. Und doch konnte sie es kaum erwarten, bis er wiederkäme. »Morgen«, hatte er gesagt . In wenigen Stunden war es so weit. Wann würde er wohl kommen? Gegen Mittag? Oder vielleicht schon früher? Wahrscheinlich war es ihm jedoch erst gegen Abend möglich, denn schließlich hatte er seinen Dienst zu versehen – am Stadttor, auf der Stadtmauer oder irgendwo innerhalb der Stadt. Anne drehte sich auf die Seite und schob einen Arm unter den Kopf. Sollte sie einen Spaziergang zu den Stadttoren machen? Verwehren konnte ihr das niemand, und immerhin hatte sie dabei die Chance, ihn zu treffen. Aber wenn er nun in der Zwischenzeit hierher kam? Sie warf sich erneut auf den Rücken. Natürlich , das wäre wieder einmal typisch. Sie klapperte die Stadttore nach Rashid ab, während er hier im Haus vergeblich auf sie wartete. Dieses Risiko konnte sie nicht eingehen. Also würde sie den ganzen Tag hier bleiben und – anstatt ihren Auftrag auszuführen und nach dem Rezept für das Gegenmittel und ihrem Sohn zu suchen – von Fenster zu Fenster wandern. Wenn Rashid doch nur gesagt hätte, wann er kommen wollte. Und wenn er nun gar nicht kam? Wenn er sich einfach nur über sie lustig gemacht hatte?
In diesem Augenblick hörte sie vor ihrem Fenster ein Geräusch . Anne blieb fast das Herz stehen. Sie richtete sich halb auf und starrte zum offenen Fenster. Der Wind bewegte leicht die Vorhänge. Der Vollmond stand über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses und schien so hell herein, dass sich deutlich hinter dem Stoff eine Gestalt abzeichnete. Irgendjemand stemmte sich gerade die Brüstung hoch. Sie sah, wie sich die Gestalt langsam, Zentimeter für Zentimeter höher schob, einen Augenblick auf dem Fenstersims hocken blieb und sich schließlich in ihr Zimmer schwang – lautlos und geschmeidig wie eine Katze. Und erst jetzt begann Anne sich zu fragen, weshalb sie eigentlich nicht um Hilfe rief. Wenn es nun ein Dieb war? Oder gar Giacomo de Pazzi? Sie tastete auf ihrem Nachttisch nach einem Gegenstand, den sie zur Not als Waffe benutzen konnte. Doch das kleine Tischchen war leer, nicht einmal ein Becher oder eine Vase stand darauf.
»Anne?«
Die Stimme war leise, kaum lauter als der Windhauch, der die Vorhänge wölbte. Sie hätte sie vermutlich nicht einmal gehört , wäre sie nicht ohnehin wach und alle ihre Sinne bis aufs Äußerste angespannt gewesen. Trotzdem erkannte sie diese Stimme sofort. Ihr Klang ließ einen wohligen Schauer über ihren Rücken rieseln.
»Rashid!«
Anne setzte sich auf. Sie konnte es kaum fassen. Mitten in ihrem Zimmer stand Rashid. War sie etwa doch eingeschlafen ? Das konnte doch nur ein Traum sein, der Traum einer lauen Sommernacht?
»Darf ich näher kommen?«, fragte er.
»Nur zu, wenn du schon mal da bist«, erwiderte Anne und zog sich die Decke bis zum Kinn. Wenigstens ein bisschen Anstand wollte sie wahren. Sie schwankte zwischen unbändiger
Weitere Kostenlose Bücher