Die Wächter von Jerusalem
Zeigefinger sanft ihre Finger entlang, jeden einzelnen. »Ein Janitschar und eine Christin verlieben sich – ja, das klingt wirklich verrückt. Sogar mehr als das. Es scheint unmöglich zu sein. Doch Allah ist groß, größer als jede menschliche Vorstellungskraft . Wenn es Sein Wille ist, wird die Nacht zum Tag, das Wasser fließt den Berg hinauf oder die Sterne fallen vom Himmel . Was ist angesichts Seiner unvorstellbaren Macht ein Gelübde ? Wir nennen so etwas Kismet. Der Mensch mit seinen Plänen ist dagegen machtlos.« Er fuhr ihr durch das Haar, zog sie näher zu sich und küsste sie.
»Rashid«, flüsterte Anne und schloss die Augen, »ich würde gern länger mit dir zusammen sein.«
»Du weißt, dass wir vorsichtig sein müssen«, flüsterte er in ihr Ohr. »Noch. Aber wir werden uns nachher sehen. Und in der folgenden Nacht komme ich wieder – wenn ich darf.«
»Natürlich.« Anne genoss das Gefühl seines warmen, lebendigen Körpers. Sie atmete den Duft seiner Haut ein. Sie sah sein Lächeln und das Funkeln in seinen Augen, obwohl sie die Augen immer noch geschlossen hatte. Und sie wusste bereits in diesem Moment, dass sie das alles vermissen würde, bis er wieder bei ihr war.
Sanft löste Rashid ihre Arme von seinem Nacken und küsste sie auf die Stirn. Und dann verschwand er fast ebenso rasch und lautlos, wie er gekommen war.
Anne saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Bett und sah der schlanken Gestalt nach, die sich über den Fenstersims schwang. Das Licht hatte seine Farbe geändert. Das Silber des Mondlichts war dem goldenen Schimmer der Morgendämmerung gewichen. Bald würde der Tag anbrechen und der Muezzin vom Minarett herab seinen eintönigen Singsang anstimmen , um die Moslems zum Morgengebet zu rufen. Sie würde aufstehen, sich anziehen und frühstücken wie jeden Morgen, so wie sie es gestern und die Tage davor auch getan hatte. Und doch war heute alles anders. Denn heute würde sie auf Rashid warten. Und sie würde nicht nur die Stunden zählen.
War es wirklich erst gestern gewesen, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte? Sie wusste wenig über ihn und sein bisheriges Leben. Und doch kam es ihr so vor, als würde sie ihn bereits jetzt besser kennen als alle anderen Männer in ihrem Leben zuvor. Sogar besser als Giuliano, den sie mehr geliebt hatte, als sie es je für möglich gehalten hatte. Wie konnte sie, die noch vor wenigen Tagen geglaubt hatte, sich nach Giulianos Tod nie wieder mit einem anderen Mann einlassen zu können, sich Hals über Kopf in einen Unbekannten verlieben? Nun ja, er sah gut aus, er hatte Charme – aber das traf auf viele Männer zu. Spielten ihre Hormone nach der Schwangerschaft verrückt? Das wäre natürlich eine plausible Erklärung, und doch wehrte Anne sich dagegen. Rashid hatte mehr in ihr ausgelöst als die Produktion irgendwelcher Sexualhormone, deren Namen sie noch nicht einmal kannte. Die Begegnung mit ihm war wie ein Erdbeben. Nein, das war das falsche Wort. Er hatte sie nicht erschüttert, sondern … Ja, es war wie das Einrasten der Zahnräder eines Zahlenschlosses an einem Safe gewesen. Gemeinsam ergaben sie die richtige Kombination .
Anne umfasste ihre Knie mit den Armen. Sie und Rashid gehörten zusammen. Das war eine Tatsache, eine Naturgewalt, der sie sich nicht entziehen konnte. Manche Menschen suchten ihr ganzes Leben lang nach der zweiten Hälfte ihrer Zahlenkombination und fanden sie nie. Sie konnte sich also wirklich glücklich schätzen. Dass sie in nicht einmal zwei Wochen wieder in ihre eigene Zeit zurückkehren und Rashid dann nie wiedersehen würde, war wohl eine Ironie, die nur die höheren Mächte begreifen konnten. Dumm gelaufen. Das Schicksal hatte wirklich einen seltsamen Humor.
Sie vergrub ihr Gesicht zwischen den Knien und begann zu weinen. Warum Rashid? Es gab so viele Möglichkeiten, wo man seine fehlende Hälfte treffen konnte – im Supermarkt, an der Ampel, bei einem Straßenfest, in der Kantine, auf dem Golfplatz, im Park … Warum ausgerechnet jetzt, hier in Jerusalem im Jahr 1530? Und es gab keinen Ausweg. Das war nicht fair.
VI
Der Untergebene
Sorgfältig legte Stefano die Lebensmittel für das Frühstück auf den Tisch. Es war ein Mahl, das in seiner Schlichtheit zu der Einrichtung der Hütte passte – ein Laib Brot und etwas Käse, Gaben von treuen Brüdern und Schwestern, die mit rührendem Eifer für ihn und Pater Giacomo sorgten, obwohl sie selbst kaum mehr als die beiden Priester besaßen. Zu trinken
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