Die Wächter von Jerusalem
seine Lippen auf ihrem Mund, und sie erwiderte den Kuss. Und genau in diesem Augenblick lösten sich alle Argumente und jede Vernunft in nichts auf.
Etwa eine Stunde später lagen sie eng aneinander geschmiegt auf dem Bett. Die Laken waren zerwühlt, ein Teil von Rashids Kleidung hing in trauter Einigkeit mit ihrem Nachtgewand über einem der Bettpfosten, der Rest lag im Zimmer verstreut auf dem Boden.
»Es ist ein Wunder«, flüsterte Rashid und lächelte zum Baldachin empor, als würde er zwischen dem Sternenmuster ein geliebtes Gesicht erkennen.
»Was ist ein Wunder?«, fragte Anne.
»Wir zwei. Wir gehören zusammen. Wir verstehen uns. Obwohl ich deine Sprache zuvor noch nie gehört und schon gar nicht gesprochen habe, ist sie mir innerhalb weniger Stunden so geläufig wie meine Muttersprache. Wie ich schon sagte, es ist ein Wunder.«
Anne schwieg. Sie dachte daran, dass Rashid wahrscheinlich aus einer der deutschsprachigen Provinzen stammte, die Suleiman oder einer seiner Vorgänger unterworfen hatte. Sein Akzent hatte einen deutlich österreichischen Einschlag. Wahrscheinlich war sein Name auch nicht immer Rashid gewesen. Aus irgendeinem Grund schien er diese Vergangenheit vergessen zu haben, und da sie nicht sicher war, wie weit sie ihn über seine Herkunft aufklären durfte, schwieg sie lieber. Irgendwo in einem der benachbarten Höfe krähte ein Hahn.
»Ich muss gleich gehen«, sagte Rashid leise, während seine Hand sanft über Annes Rücken glitt.
»Wann sehen wir uns wieder?«
»In wenigen Stunden. Mein Dienst beginnt heute erst zur Mittagsstunde, und vorher komme ich zu euch, um mit deinem Cousin zu sprechen.« Die Worte trafen Anne unerwartet hart. Rashid kannte nicht die Wahrheit über sie. Er wusste nicht, dass Cosimo nicht ihr Cousin war. Er wusste nicht, dass sie aus der Zukunft stammte, dass sie einen erwachsenen Sohn hatte. Er wusste eigentlich gar nichts. Sie hatte ihn angelogen. »Kann ich ihm trauen?«
»Wem?«
»Deinem Cousin und seinem Sohn«, erwiderte Rashid belustigt . »Schläfst du in meinen Armen?«
Anne fuhr sich verlegen durchs Haar. Wie sollte sie ihm sagen , was ihr durch den Kopf ging?
»Du kannst Cosimo vertrauen. Warum zweifelst du an ihm?«
»Nun …«, Rashid brach ab und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Er macht zwar einen sympathischen Eindruck, aber er ist auch irgendwie unheimlich. Seine Augen sind so … so … alt. Dabei sieht er aus, als wäre er keine zehn Jahre älter als sein eigener Sohn.«
Der in Wahrheit gar nicht sein Sohn ist, dachte Anne. Das Geflecht der Lügen kam ihr plötzlich vor wie ein Spinnennetz mit Fäden, die dicker waren als Schiffstaue.
»Ja, ich weiß. Cosimo hatte schon immer diese Wirkung auf Menschen. Es mag daran liegen, dass er anders ist als die meisten seiner … unserer Verwandten«, verbesserte sie sich rasch und wagte es nicht, Rashid anzusehen, obwohl es noch zu dunkel war, als dass er ihr das schlechte Gewissen von den Augen hätte ablesen können. Doch wie hätte sie ihm die Wahrheit erzählen können? Wie?
Rashid nickte. »Das habe ich mir schon gedacht, aber …« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich bin dennoch erleichtert , es aus deinem Mund zu hören.«
Der Hahn krähte zum zweiten Mal. Rashid gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schob sie dann sanft zur Seite. Er stand auf und sammelte seine verstreute Kleidung wieder ein. Anne sah ihm dabei zu – enttäuscht. Gleichzeitig fragte sie sich, wie das mit ihnen weitergehen sollte. War das alles, ein einmaliges Abenteuer, eine einzige leidenschaftliche Nacht? Oder wollten sie sich von nun an jede Nacht heimlich treffen? Wollten sie ihre Liebe vor den Augen der anderen verstecken wie zwei Teenager oder wie …
Anne schluckte. Der Vergleich, der ihr eingefallen war, behagte ihr gar nicht. Es war zwar eine der schönsten Liebesgeschichten der Weltliteratur, doch leider fand sie ein hoffnungsloses , tragisches Ende. Und daran wollte sie nicht denken. Weder jetzt noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt.
Rashid war bereits fertig angezogen und setzte sich nochmals zu ihr auf die Bettkante.
»Was ist mit dir?«, fragte er und streichelte ihr zärtlich die Wange. »Deine Augen schimmern, als würden sie sich gleich mit Tränen füllen. Weshalb bist du so traurig?«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht wirklich traurig, Rashid. Ich … ich bin durcheinander. Es ist alles so …«
»Verrückt?« Er nahm ihre Hand und strich mit seinem
Weitere Kostenlose Bücher