Die Wächter von Jerusalem
erkannte er sofort. Wie sollte er sie auch je vergessen.
»Einen Moment bitte, Signorina Anne«, sagte er und schickte ein Dankgebet zum Himmel. »Ich verbinde Sie gleich mit Signor Mecidea.«
Anselmo drückte die Tasten auf dem Telefon und lauschte dem gleichmäßigen Tuten in der Leitung. Zweimal, dreimal, viermal … Cosimo war in der Bibliothek, das wusste er genau. Aber weshalb ging er nicht ans Telefon? War er doch wieder so tief in dem Sumpf seiner Depression versunken, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, sich aus seinem Sessel zu erheben ? Anselmo spürte, wie er zornig wurde. Dieser Trottel! Wenn er nicht gleich ans Telefon ging, würde er ihn eigenhändig an den Haaren … Da, endlich.
»Anselmo, weshalb um alles in der Welt störst du mich?« Die Stimme seines Herrn klang ebenso verschlafen und ungehalten wie an jenem Morgen, als er ihn weit vor der Zeit geweckt hatte, um ihm mitzuteilen, dass Signorina Anne in der Bibliothek auf ihn wartete. Wie gut er sich daran noch erinnern konnte, obwohl es mehr als fünfhundert Jahre her war. »Ich habe gerade …«
» Sie ist in der Leitung und möchte mit dir sprechen, Cosimo .«
»Sie? Wer ist sie? Von wem sprichst du?«
»Ich meine Signorina Anne Niemeyer aus Hamburg.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still. Und Anselmo sah förmlich, wie auch noch der letzte Rest Farbe aus Cosimos Gesicht wich und wie er sich durch das immer noch dunkle Haar fuhr, als müsste er erst langsam begreifen, was er soeben gehört hatte.
»Was sagtest du gerade?«
»Ich sagte, dass Signorina Anne Niemeyer …«
»Und du hältst mich nicht zum Narren, Anselmo? Es ist kein Versuch, mich aufzuheitern?« Cosimos Stimme klang scharf.
»Cosimo, es gibt Grenzen. Mit gewissen Dingen treibe ich keine Scherze.«
»Dann ist es also wirklich wahr«, sagte Cosimo. Er hörte sich seltsam heiser an. »Sie ist schnell. Schneller, als ich dachte. Dabei ist mir eingefallen, dass sie nicht einmal meine Adresse oder Telefonnummer kennt und dass du gut dafür gesorgt hast, dass beide auch geheim bleiben. Sie muss wirklich sehr klug sein. Geradezu ungewöhnlich intelligent. Ich … Stell sie durch, Anselmo. Und dann komm sofort zu mir.«
»Selbstverständlich.«
Anselmo drückte den Knopf an der Tastatur und legte den Hörer langsam auf die Gabel. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Sein kleiner Trick hatte sich gelohnt. Selbst wenn Anne Cosimo von der E-Mail erzählen würde, konnte er toben und schimpfen, so viel er wollte, ändern konnte er daran jetzt nichts mehr. Der Stein war ins Rollen gekommen. Es war so weit. Endlich.
Treffen auf dem Golfplatz
Anne ließ sich schwerfällig auf dem Fahrersitz ihres Wagens nieder. Es ging ihr schon viel besser – wenigstens körperlich gesehen. Sie fühlte sich zwar immer noch matt, aber es war nicht mehr so schlimm wie noch vor zwei Tagen. Und das, obwohl sie in der vergangenen Nacht vor Aufregung kaum geschlafen hatte.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Sie war erst um zehn Uhr mit Cosimo Mecidea verabredet. Und bis zu dem Golfplatz, auf dem sie sich treffen wollten, war es nicht weit. Sie hatte also mehr als genug Zeit, um dorthin zu fahren und nochmals ihre Liste mit den Fragen durchzugehen. Die Liste war zwei Seiten lang und eng beschrieben. Auf jede einzelne dieser Fragen wollte sie heute eine Antwort haben. Anne war es gewohnt, sich vor einem Interview Notizen zu machen, obwohl sie diese Spickzettel nur selten brauchte. Doch heute war sie noch nervöser als vor ihrem allerersten Interview. Und da war es gut zu wissen, dass sie auf einen Zettel zurückgreifen konnte, auf dem alles schwarz auf weiß geschrieben stand.
Anne startete den Wagen und fuhr aus der Tiefgarage ihres Wohnhauses. Als sie die Ausfahrt hinauffuhr, kreuzte ein Radfahrer ihren Weg. Es war ein alter Mann mit einem schwarzen Hut. Dass Anne darauf wartete, endlich auf die Straße zu fahren, schien ihn nicht weiter zu stören. Gemächlich trat er in die Pedale, wobei das gelbe Klapprad bedrohlich nach rechts und links schwankte und erbärmlich quietschte.
Anne legte beide Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Betont vorsichtig und aufmerksam fuhr sie weiter. Sie wollte unter gar keinen Umständen riskieren , in einen Unfall verwickelt zu werden und dadurch ihre Verabredung mit Mecidea zu versäumen. Trotzdem brauchte sie keine zehn Minuten, um den Golfplatz zu erreichen. Warum um alles in der Welt wollte Mecidea sie auf
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