Die Waechter von Marstrand
nicht optimal. Um Astrid deutlicher zu verstehen, musste sie raus in die Plicht. Karin zog sich einen Wollpullover an, wickelte sich eine Decke um die Beine und legte zwei Polster in die Plicht. Dann rief Astrid zurück.
Die alte Frau auf dem Nordgård, 1877
Sie war lange, bevor es hell wurde, wach geworden. Irgendetwas hatte sie geweckt. Sie glaubte, eine Stimme gehört zu haben.
» Lieve Hoogheid , darf ich euch um Hilfe bitten? Ich habe sonst niemanden, an den ich mich wenden kann, und muss einen Brief absenden. Aan die Koningin van Holland .«
Agnes war im Nachthemd hinaus auf den Hof gegangen. Die Stimme war von draußen gekommen, aber dort war niemand.
Sie war hinüber zum Stall gegangen und hatte eine Weile dort gesessen. Mit genauso nackten Füßen wie Aleida in dieser schicksalsschweren Nacht vor vielen Jahren. Wenn sie die Augen schloss, sah sie Aleida vor sich. Den toten Jungen hatte sie an ihre Brust gedrückt. Der Schmerz war immer noch da. Sie hatte nicht um ihn trauern können und dürfen. Auch sprechen durfte sie mit niemanden darüber. Nur ihrem Tagebuch hatte sie sich anvertraut.
Wo war Aleida eigentlich abgeblieben? Jedes Mal, wenn Agnes den kleinen Oskar ansah, erinnerte sie sich voller Dankbarkeit an diese Frau.
»Ich habe ihm diesen holländischen Kinderreim beigebracht. Er kann ihn auswendig. Du weißt schon, er beginnt so:
Hopsa Janneke
Stroop in’t kanneke
Laat de poppetjes dansen
Eenmaal was de Prins in’t land
En nu die kale Fransen.«
Oft hatte sie sich gefragt, ob sie richtig gehandelt hatte. Zweifel und Fragen kamen ihr immer dann, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Im blühenden Sommer oder beim Kartoffelnwaschen im Herbst. Hätte sie Aleida auf dem Nordgård verstecken sollen? Tief im Innern wusste sie, dass das niemals funktioniert hätte. Es hätte für siealle das Aus bedeutet. Johannes und Daniel verschonten keinen. Es war damals noch lange über das königliche Schiff aus Holland geredet worden, das unverrichteter Dinge die Heimreise angetreten hatte. Die Frau, nach der sie gesucht hatten, wurde nie aufgefunden. Auch ihr Ehemann nicht.
Sie ging zurück ins Haus. Das Springkraut auf der Fensterbank schien Wasser zu brauchen. Agnes goss einen Schluck Wasser in jeden Blumentopf. Mittlerweile brauchte sie beide Hände dafür.
Es war auch zu spät, um Oskar davon zu erzählen. Vor zwölf Jahren war er von ihr gegangen. Im Schlaf. Vielleicht hatte er es geahnt, denn am Abend zuvor hatten sie ein langes und inniges Gespräch geführt. Waren noch einmal alles von Anfang bis Ende durchgegangen. Wie sie sich kennengelernt hatten, wie Agne verschwunden und Agnes die Frau im Haus geworden war und schließlich Lovisa kam. Oskar Emanuel wuchs heran und wurde mit jedem Tag größer. Oskar hatte ihr lachend erzählt, dass er heute etwas Urkomisches gemacht habe. Agnes konnte sich nicht mehr erinnern, was er ihr erzählt hatte, aber es war ein schöner Abschluss gewesen. Es hätte noch so viel mehr zu sagen gegeben, aber daraus war nun einmal nichts geworden. Sie musste sich stattdessen mit Lovisa und ihrem Tagebuch unterhalten. Und mit Oskar Emanuel.
Noch immer deckte Agnes den Frühstückstisch manchmal für zwei Personen, bevor ihr wieder einfiel, dass sie allein war. Sie setzte sich an ihren Sekretär und holte vorsichtig das Tagebuch aus seinem Versteck. Blätterte in ihren Erinnerungen. Lächelte an einer Stelle und schüttelte an einer anderen den Kopf. Sie ging zurück in die Küche und stellte sich wieder an das Fenster. Das ganze Haus war randvoll mit Erinnerungen, und überallspürte sie Oskars Anwesenheit. Geliebter Oskar. Und die Frau, die draußen auf dem Hof gestanden hatte, ohne sich aufzudrängen. Verzeih mir, Aleida, aber ich habe meine Familie geschützt. Ich tat das, was ich für das Beste hielt. Deinem Sohn, unserem geliebten Jungen, geht es gut. Oskar ist so ein feiner Kerl. Kürzlich hat er selbst einen wunderbaren Sohn bekommen. Agnes dachte daran, wie Lovisa hereingestürzt kam, um ihr zu erzählen, dass Oskar Emanuel um die Hand von Selma vom Bremsegård angehalten hatte. Nur Agnes wusste, dass Selmas Großvater Johannes Andersson auch der Vater von Oskar Emanuel war. Agnes seufzte. Was für seltsame Wege das Schicksal sich suchte. Genau wie die Liebe.
»An dem Mädchen ist nichts auszusetzen«, hatte sie zu Lovisa gesagt. »Nur an ihrem Großvater, aber dafür kann das Mädchen nichts. Jeder hat damals ums Überleben gekämpft und wollte seine eigene
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