Die Waechter von Marstrand
versuchte den Kopf zu heben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, aber sie sah nichts als Himmel. Offenbar befand sie sich im ersten Stock des Hauses. Erinnerungsfetzen gingen ihr durch den Kopf. Der maskierte Mann mit dem Messer. Als er hereinkam, hatte es draußen geschneit. Oskar hatte ihn zu Boden gerissen. Oskar Ahlgren hatte ihr das Leben gerettet, und sie hatte ihn angelogen.
Eine Weile später klopfte es wieder an die Tür. Oskar trat ein. Er sieht müde aus, dachte Agnes.
»Widells«, begann Agnes.
»Ich habe einen Boten zu ihnen geschickt, sie wissen, dass du hier bist. Oder zumindest, dass Agne Sundberg hier ist.«
»Verzeih mir, ich wollte dich nicht anlügen.«
»Wie heißt du?«
»Agnes Andersdotter. Ich bin draußen auf Härnäs auf Hof Näverkärr aufgewachsen. Nördlich von Lysekil.«
Er nickte.
»Trankocherei Karlsvik, da hast du also gelernt. Ich habe davon gehört, dass der dortige Besitzer die Arbeit seiner Tochter überlässt.«
»Vater hat mir gestattet, ihm zu helfen. Das kann ich genauso gut wie jeder andere.«
»Was hat dich nach Marstrand verschlagen?«
»Vater hat mich Bryngel Strömstierna von Gut Vese versprochen.«
Wieder nickte Oskar.
»Sieh an, Vese. Ein großer Hof. Was hat der Dame denn daran missfallen. War er ihr etwa nicht groß genug?«
Der Kommentar machte sie traurig. Hätte er es denn nicht besser wissen müssen, dachte sie zunächst, dochdann rief sie sich zur Vernunft. Er kannte sie ja überhaupt nicht, und wenn hier jemand um Verzeihung bitten musste, dann war sie es.
»Die ehemalige Herrin auf Vese ist ins Wasser gegangen, nachdem ihr Schwiegervater sie nachts in ihrer Schlafkammer besucht hat. Ich wollte nicht ihren Platz einnehmen. Aber wie sollte ich das meinem Vater sagen? Ich hätte es tun sollen, aber ich konnte einfach nicht. Stattdessen bat ich ihn, mich zu Hause bleiben zu lassen, aber Vater wollte mir nicht erlauben, weiter in der Trankocherei zu arbeiten. Er war überzeugt, mit Gut Vese würde ich eine gute Partie machen, und so sah ich keinen anderen Ausweg, als davonzulaufen. Als Frau konnte ich jedoch nicht allein reisen. Also schnitt ich mir die Haare ab, packte Großmutters Robbenfellkoffer und …«
Die ganze Geschichte sprudelte nur so aus Agnes heraus. Es war eine große Erleichterung, sich endlich jemandem öffnen zu können. Agne Sundberg und Oskar Ahlgren waren im Laufe des Herbstes gute Freunde geworden, und sie hoffte, dass sie nicht sein Vertrauen verspielt hatte. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis sie ihm alles, was geschehen war, beschrieben und erklärt hatte. Oskar hörte ihr schweigend zu.
»Du hattest etwas an dir«, sagte er, als sie verstummt war. »Du warst wie eine frische Brise, aber da war noch etwas anderes, das ich nicht wirklich benennen konnte. Ich verbrachte gern meine Zeit mit dir und schätzte unsere Freundschaft.«
»Ich hoffe, sie ist uns geblieben. Denn mir bedeutet unsere Freundschaft auch viel.«
Hätte damals bei der Verlobungsfeier Oskar anstelle von Bryngel am Tisch gesessen, hätte sie nicht eine Sekunde gezögert. Er sah sie warmherzig an.
Agnes blickte sehnsüchtig zum Fenster.
»Kann man von hier aus das Meer sehen?«
»Der Arzt hat gesagt, du sollst dich ausruhen.«
Agnes stützte sich auf die Ellbogen und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante. Schon alleine diese Bewegung strengte sie füchterlich an, und aus eigener Kraft würde sie es nie bis zum Fenster schaffen. Oskar kam ihr zu Hilfe, hüllte sie in ihr Laken und das Federbett und zog sie behutsam hoch. Die Wunde an ihrer Brust schmerzte.
»Tust du denn nie, was man dir sagt?«, brummte er, während er sie zum Fenster trug.
»Doch. Hin und wieder.«
Wie nah er ihr war, dachte Agnes und spürte seine Wärme. Vor dem Fenster blieb er stehen und setzte sie in den Winkel, blieb jedoch an ihrer Seite, um sie zu stützen.
Die Welt vor dem Fenster war vollkommen weiß, nur das Meer funkelte blaugrün. An einigen Stellen hatte der Wind den Schnee fortgeweht und die grauen Klippen entblößt.
»Oh, wie schön.«
»Du solltest die Insel mal sehen, wenn alles grün ist.« Oskar trug Agnes zum Fenster am anderen Ende des Zimmers.
»Das andere Fenster geht nach Norden hinaus, hier ist also Süden.«
So weit das Auge reichte, erstreckten sich schneebedeckte Felder. Sie lagen geschützt zwischen den Bergen. Mit schwacher zitternder Hand zeigte Agnes auf den höchsten Gipfel und fragte nach dem Namen des Berges.
»Das ist der
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