Die Waechter von Marstrand
Lindenberg. Er heißt so, weil dort so viele Linden wachsen.«
»Hier sieht es genauso aus wie zu Hause in der Gegend von Näverkärr.« Plötzlich hatte Agnes einen Kloß im Hals. Linde, Schneeball, Haselstrauch und Buche. Derganze Wald rings um Hof Näverkärr war voller Laubbäume, die sich im Schutz der hohen Berge unheimlich wohlfühlten. Vater hatte darauf beharrt, sie in Ruhe zu lassen. Lieber legte er weite Strecken zurück, um Brennholz und Torf für die Kessel zu holen. »Großmutter und ich haben immer Haselnüsse gepflückt.«
»Die wachsen allerdings nicht auf Linden.« Oskar lächelte. Vielleicht hatte er die Träne in ihrem Augenwinkel gesehen.
»Es war nicht meine Absicht, dich hinters Licht zu führen.« Nun konnte Agnes die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Du warst doch so freundlich zu mir, und ich wollte dir auch alles erzählen, aber dann wusste ich nicht mehr, wie. Als Frau kann ich mich nirgendwo frei bewegen oder gar arbeiten. Da ich aber auch nicht auf die Gnade eines Mannes angewiesen sein will, verkleide ich mich lieber als Agne Sundberg.«
Dann fielen ihr Großmutters Robbenfellkoffer und das Tagebuch ein, das noch in ihrem Zimmer bei Widells im Schrank lag. Falls jemand es gefunden hatte, war ihr Geheimnis nicht mehr geheim. Sie musste Oskar von dem Tagebuch erzählen. Vielleicht konnte er es holen.
»Nun hat das Fräulein lange genug die Aussicht genossen. Es muss zurück ins Bett.«
»Du meinst wohl die gnädige Frau?«, gab Agnes zurück und fragte sich im selben Moment, ob sie zu weit gegangen war. Oskar sagte nichts, sondern trug sie wortlos zum Bett.
»Du kannst dich aber nicht für immer verkleiden«, sagte er. »Wie hast du dir das vorgestellt?«
»Ich weiß nicht. So weit habe ich gar nicht gedacht. Mein Plan war es, mich nach Marstrand durchzuschlagen. Erst als ich hier angekommen war und Arbeit bei Widells gefunden hatte, begann ich mir Gedanken darüber zu machen, was ich eigentlich tun wollte.«
»Ich gehe uns jetzt etwas zu essen holen. Du brauchst dringend etwas zwischen die Zähne, du siehst aus wie ein Spatz.«
»Spatz?« Agnes musste grinsen.
Behutsam legte er sie wieder ins Bett und deckte sie sorgfältig zu. Agnes betrachtete ihren Arm und sah, wie dünn er geworden war.
Müdigkeit überkam sie.
»Oskar?«
»Ja?«
»Danke.«
Oskar schaute sie an. Ihr Haar war zerzaust, ihre Haut käsig, und die dunklen Ringe unter ihren Augen wirkten geradezu unheimlich. Trotzdem würde sie höchstwahrscheinlich überleben, hatte der Doktor gesagt. Wenn es keine Komplikationen gebe, werde alles gut. Oskar wollte gerade etwas sagen, doch als er Luft holte, bemerkte er, dass Agnes bereits eingeschlafen war. Er lauschte noch eine Weile ihren Atemzügen und betrachtete ihre Lippen und die schmalen Hände auf der Decke.
Im Grunde hatte er mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen, dass Agne in Wirklichkeit eine Agnes war. Die Situation in dem Laden war verwirrend und gefährlich gewesen, und so konnte Oskar erst jetzt die seltsame Anziehung verstehen, die Agne Sundberg auf ihn ausgeübt hatte.
7
Der rote Schopf war das Erste, was Karin zwischen den Baumstämmen aufblitzen sah, als der Kriminaltechniker mit seinem Rucksack und einer Tasche in der Hand anmarschiert kam.
»Wolltest du nicht herunterkommen und uns tragen helfen?«
»Wenn du mich angerufen hättest, hätte ich das auch gemacht.«
»Das habe ich ja versucht, aber da musste ich erfahren, dass es hier keinen Empfang gibt.«
»Ach, stimmt. Mist.« Karin grinste.
»Hallo, Karin! Schön, dich zu sehen!« Der laute Ruf kam von Gerichtsmedizinerin Margareta Rylander-Lilja. Sie besuchte nicht jeden Leichenfundort persönlich, aber in diesem Fall war Karin besonders erfreut, sie zu sehen. Zusammen waren Jerker und Margareta ein ausgezeichnetes Team.
»Danke gleichfalls«, antwortete Karin. »Wie gut, dass ihr beide gekommen seid.«
»Wo fangen wir an?«, fragte Jerker.
Schnell berichtete Karin von dem Fund, den die Studenten aus Göteborg im Alten Moor gemacht hatten,und zeigte dann auf die sumpfige Stelle, wo die Bodenprobe entnommen worden war.
»Da vorne wurde die Leiche entdeckt. An der Oberfläche war nichts zu sehen. Man hat nur ein Ohr gefunden, aber ich gehe davon aus, dass sich dort auch ein Körper befindet.«
Jerker begann zu fotografieren und vermaß dann die Stelle. Als er damit fertig war, gingen Margareta und er zum Fundort und beratschlagten, wie man die Leiche ausgraben sollte, ohne
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