Die Waechter von Marstrand
Tag stundenlang durch den Wald spaziert, manchmal sogar bis zur Kirche.«
Josefina massierte Agnes’ Kopfhaut und wusch ihr anschließend sorgfältig die Haare. Danach spülte sie das Haar mit Lavendelwasser und übergoss schließlich Agnes’ ganzen Körper damit. Agnes hatte das Gefühl, Josefina würde das letzte bisschen Agne von ihr abwaschen. Sie schloss die Augen und ließ sich das Wasser über das Gesicht laufen. Aus Angst, dass jemand sie wiedererkennen würde, hatte sie sich wirklich bemüht, anders, vor allem weiblicher auszusehen. Die Jacke mit dem Pelzkragen, die Vater ihr von zu Hause mitgebracht hatte, sowie ihre ganzen Kleider und einige von ihrer Mutter taten das ihre, aber völlig frei war sie von der Sorge noch nicht. Auf der Straße setzte sie immer eine Kapuze auf, und wenn ihr jemand länger ins Gesicht sah, wurde sie nervös. Widells Laden suchte sie überhaupt nicht auf und mied nach Möglichkeit auch Marstrandsö. Heute war eine Ausnahme. Vielleicht wurde es leichter, wenn ihre Haare wieder ein Stück länger waren. Mit langem Haar und in einem Kleid würde niemand Agne in ihr sehen.
»Hat das Fräulein gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Josefina.
»Nein«, gab Agnes zu.
»An seinem Hochzeitstag darf man ruhig zerstreut sein.«
Unbewusst strich sich Agnes über den Kopf.
»Darüber habe ich gerade gesprochen. Die Haare sind zwar etwas kurz, aber wir werden tun, was wir können. Ich habe nämlich von der Großmutter des Fräuleins einen besonderen Kniff gelernt.« Josefina lächelte. Agnes wurde in trockene Handtücher gewickelt, und dann nahmen sich Josefina und die Frau des Pastors der Haare von Agnes an. Auf die Frage, warum sie so kurz seien, erwiderte Josefinaknapp, das hänge mit einem Unfall zusammen, über den das Fräulein nicht gern spreche. Um sie aus einer misslichen Lage zu befreien, habe man dem Fräulein das Haar abschneiden müssen. Die Frau des Pfarrers machte ein so entsetztes Gesicht, dass Agnes sich ein Lachen verkneifen musste. Flinke Finger zwirbelten Agnes’ Haare zu einer schönen Frisur zusammen, und dann wurde ihr die Myrtenkrone aufgesetzt, die die Frau des Pastors geflochten hatte. Josefina holte das dunkelblaue Seidenkleid, in dessen Jacquardstoff französische Lilien eingewebt waren. Es hatte einen tiefen Ausschnitt, und die Kante über dem geschnürten Mieder war mit weißer Spitze verziert. Das Haar hatte einen hübschen Glanz und duftete nach Lavendel. Die ganze Agnes sah wie frisch erblüht aus. Sprachlos blieb Vater auf der Türschwelle stehen, als er sie erblickte.
»Mein geliebtes Kind. Deine Mutter wäre stolz auf dich, wenn sie dich jetzt sehen könnte. Von deiner Großmutter ganz zu schweigen.« Josefina war erst zufrieden, nachdem sie ihr ein Spitzentuch über die Schultern gelegt hatte.
Vater hakte Agnes unter, und dann gingen sie gemeinsam über die Straße zur Kirche.
Agnes stand neben ihrem Vater in der Kirchenvorhalle. Nun warteten alle auf den Bräutigam. Die Tür ging auf, und Oskar trat ein. Auch ihn ließen der Ernst des Moments und Agnes’ Anblick verstummen, bevor sich das vertraute Strahlen auf seinem Gesicht ausbreitete.
»Wie schön du bist. Ich kann es gar nicht glauben, dass ich dich wirklich heiraten darf.«
Er küsste Agnes auf die Wange und gab ihrem Vater die Hand. Dann ließ ihr Vater die beiden allein zurück und betrat als letzter Mann vor dem Brautpaar die Kirche. Die Flügeltür zwischen Kirchenvorhalle und Kirchenschiffwurde geöffnet. Alle Bänke waren voll besetzt. Neugierige Gesichter drehten sich zu ihnen um. Auf zittrigen Beinen ging sie an Oskars Hand zum Altar. Sie machte vorsichtige Schritte, weil sie fürchtete, der kleine Absatz unter den schwarzen Stiefeletten könnte sie aus dem Gleichgewicht bringen. Gemeinsam mit den anderen Männern saß Vater neben ihrem Schwiegervater auf der nördlichen Seite. Josefina saß auf der anderen Seite des Mittelgangs und trocknete ihre Freudentränen mit einem bestickten Taschentuch. Oskar drückte Agnes’ Hand, bevor er sie kurz vor dem Altar losließ. Der Pastor nickte beiden würdevoll zu.
Vor Gott und allen Menschen Ja zu Oskar sagen zu dürfen, war großartig. Dass er auch Ja zu ihr sagte, war fast noch schöner. Kaum zu glauben, dass doch noch alles gut gegangen war. Ganz benommen ging Agnes über die unregelmäßigen Steinplatten zurück, unter denen Generationen von gewichtigen Einwohnern Marstrands ruhten. Sie wusste, dass dieses Privileg nur wenigen
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