Die Waechter von Marstrand
diese Geschäfte entgehen zu lassen. Auf so etwas darf man sich niemals einlassen, denn es muss immer böse enden. Diese geldgierigen Unholde schrecken nicht einmal vor Menschenleben zurück.«
Er sah aus, als hätte er noch etwas sagen wollen, verstummte jedoch.
»Oskar, was ist denn?«, fragte Agnes.
»Ich möchte, dass ihr nach Einbruch der Dunkelheit im Haus bleibt.«
»Warum?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist besser, wenn du nichts davon weißt.«
Agnes wurde puterrot im Gesicht. So gut hätte er sie inzwischen kennen müssen.
»Vielleicht ist es aber auch gut, wenn ich eingeweiht bin, denn dann weiß ich, worauf ich achten muss. Los, erzähl!«
»Hier auf der Insel werden Feuer auf den Klippen angezündet. Die Schiffe werden in die Falle gelockt. Gestern schwamm vor der Heringssalzerei eine Leiche.«
»Es kommt doch nicht selten vor, dass Menschen versehentlich über Bord gehen.«
»Stimmt, aber aufgrund der Verletzungen dieses Mannes glaube ich, dass er umgebracht und ins Meer geworfen worden ist. Ich möchte nicht, dass du und Lovisa euch draußen aufhaltet, wenn es dunkel ist.«
»Wer hat das getan? Daniel Jacobsson aus Korsvik?«
»Ich habe da so einen Verdacht. Bei den Korsvikern mit Daniel als Anführer bin ich mir ganz sicher, aber die Leute vom Klampebacken gehören auch dazu, und es muss noch mehr geben. Es ist schlimm, Agnes, richtig schlimm. Du musst mir versprechen, im Haus zu bleiben.«
Agnes dachte an die Schlägereien zwischen den Fischerkompanien in ihrem Heimatort, aber das hier war etwas ganz anderes. Sie betrachtete ihre kleine Tochter, die auf dem Arm ihres Vaters eingeschlafen war.
»Ich werde es versuchen.«
»Nicht versuchen, Agnes. Du musst dich daran halten. Ihr dürft nicht hinausgehen. Versprich mir das.«
»Ich verspreche es dir.«
Agnes hätte so gern noch mehr Kinder bekommen. Sie schrieb ihre Sorgen in ihr Tagebuch. Oskar meinte jedoch, sie sollten dankbar für die Tochter sein, die sie hatten. In den Hütten ringsherum wimmelte es von Kindern, aber nur wenige überlebten bis ins Erwachsenenalter. Als Lovisa zehn Jahre alt wurde, lebten im Nachbarhaus elf Kinder, zwei Jahre später waren nur noch acht übrig, und das kleine Mädchen, das sich im Winter zu der Kinderschar dazugesellt hatte, litt an schwerem Fieber. Genau wie viele andere Familien auf der Insel ließen die Eltern ihre Kinder auch tagsüber im Bett liegen, um ihre bereits geschwächten Körper zu schonen. Der Hering schien die Küste verlassen zu haben, und in denHütten gab es selten genug zu essen. Agnes hatte den Nachbarn eine Kanne Milch und heißen Getreidebrei hinübergebracht, aber aus Angst vor Ansteckung hatte sie die Lebensmittel auf der Verandatreppe zurückgelassen. Als die Frau die Tür aufmachte, um Astrid für ihre Güte zu danken, brannten in ihren Augen Sorgen und Not.
16
Um sieben Uhr schmierte sich Astrid ein paar Butterbrote und trank dazu ein Leichtbier. Die Sonne beschien die Klippen von Klöverö, und in den Baumkronen glitzerten Wassertropfen. Am Himmel wölbte sich ein Regenbogen. Sie erinnerte sich daran, was Mutter immer gesagt hatte: »Am Ende des Regenbogens liegt ein Schatz.« Damit hatte sie recht gehabt. Was um alles in der Welt hatte sie bloß in Vater gesehen? Hatte sie es auf den Hof abgesehen? Mehr als einmal hatte sich Astrid diese Frage gestellt, und vielleicht hatte sie deshalb nie geheiratet.
In den alten Zeitungen würde wohl kaum etwas Interessantes stehen, dachte sie und wandte sich stattdessen der Bücherkiste zu, die Vendela auf den Wohnzimmertisch gestellt hatte. Das abgegriffene Buch ganz oben legte Astrid gleich zur Seite. Das Buch darunter hatte einen alten Ledereinband und schien beim ersten Öffnen auseinanderzufallen. Es war ein Notizbuch. Die Handschrift war altmodisch und schön. »Agnes« las sie und bemühte sich, auch den Rest zu entziffern. Vielleicht stand dort »Andersdotter«. Mutter hatte mit zweitem Namen Agnes geheißen, und Astrid hatte dieser Name immer gefallen.
Sie blätterte um. Hof Näverkärr Anno 1792. Von diesem Ort hatte Astrid noch nie gehört. Wenn Charlie oder Vendela jetzt da gewesen wären, hätten sie sicher im Internet recherchiert, wo er lag. Sie behaupteten, im Netz würde man alles finden, aber Astrid bezweifelte, dass das wirklich stimmte. Es dauerte seine Zeit, die verschnörkelte Handschrift zu lesen. Sie schaltete die Lampe über dem Wohnzimmertisch ein und machte es sich mit dem Buch bequem. Es schien sich
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