Die Waechter von Marstrand
um eine Art Tagebuch von dieser Agnes zu handeln. Zu Beginn starb die Großmutter des Mädchens. Agnes las weiter. Offenbar verlor Agnes nicht nur ihre Großmutter, sondern auch ihre Mutter. Langsam gewöhnte sich Astrid an die Buchstaben und kam schneller voran. Während es draußen vor der Hütte dunkel wurde, versank Astrid in Agnes’ Welt. Sie las die Geschichte der tatkräftigen jungen Frau, die sich die Haare abschnitt und die einzige Welt verließ, die sie kannte, um nicht heiraten zu müssen. Dafür hatte Astrid vollstes Verständnis. Trotz der altertümlichen Sprache hatte sie bald ein Bild von Agnes vor Augen und konnte das Tagebuch kaum aus der Hand legen, als es Zeit zum Schlafengehen wurde. Eine ganze Weile lag sie grübelnd wach. Schließlich knipste sie die Nachttischlampe an und las weiter. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. In dieser Nacht träumte sie von Widells Laden.
Astrid blickte verwundert auf die Uhr. Das konnte nicht wahr sein. War es wirklich schon so spät? Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt bis neun Uhr morgens geschlafen hatte. Vorsichtig setzte sie sich auf und erhob sich, so schnell es ihre alten Beine erlaubten. Der verflixte Körper kam mittlerweile so schleppend in Fahrt. Wenn Vendela herüberkam, würde sie glauben, Astrid wäre krank geworden. Normalerweise hatte sie um diese Zeit längst ihren Kaffee getrunken. Sie strich mit den Fingerspitzenüber das Buch, das sie so lange wachgehalten hatte. Eigentlich hätte sie sich am liebsten sofort hingesetzt und weitergelesen, aber nun gab es wichtigere Dinge zu tun. Falls sie sich nicht an einen Strohhalm klammerten. Mit ihren Kleidungsstücken über dem linken Arm und der rechten Hand fest am Geländer stieg sie die Treppe hinunter. Vielleicht sollte sie selbst hinübergehen und mit Rickard und Jessica reden, um sie umzustimmen. Nein, zu Rickard hatte sie keinen guten Draht mehr, falls sie den jemals gehabt hatte. Astrid wusch sich in der kombinierten Waschküche und Dusche und zog sich anschließend an. Es war seltsam, wie heftig sie sich nach all den Jahren noch nach draußen sehnte. Sie konnte es kaum erwarten, die Tür zu öffnen. Normalerweise lief sie in abgeschnittenen Gummistiefeln herum, weil das Gras morgens noch taufeucht war, aber an diesem Morgen trat sie in ihren Holzpantinen hinaus. Die Sonne schien, und es war schon warm. Fliegen surrten herum, und die Bienen umkreisten energisch die Blüten und suchten nach Nektar. Astrid nahm ein paar tiefe Atemzüge und summte vor sich hin, während sie die Haustür weit öffnete und mit einem Seil befestigte. Danach ging sie auf das Plumpsklo.
Vendela und Charlie tauchten in dem Moment auf, als der letzte Kaffee durch den Filter sickerte.
»Du trinkst doch keinen Kaffee, aber möchtest du vielleicht Sirup?«, fragte Astrid.
»Ja«, antwortete Charlie, woraufhin ihn Vendela in die Seite knuffte.
»Ja, bitte, heißt das.«
»Ja, bitte.«
»Du kannst mitkommen in den Keller und ihn dir selbst aussuchen.« Astrid zog den Flickenteppich im Hausflur zur Seite und brachte die Kellerluke zum Vorschein.
»Denk nicht einmal daran, dort allein hinunterzusteigen,wenn wir nicht da sind.« Vendela zog an dem alten Messingring. Der Boden öffnete sich, und eine Kellertreppe wurde sichtbar.
»Wisst ihr, wie mein Großvater Carl Julius diesen Teil des Kellers immer genannt hat?«, fragte Astrid.
Charlie schüttelte den Kopf.
»Das Versteck. Dazu hat er immer so ein geheimnisvolles Gesicht gemacht.«
»Wurden hier unten denn Sachen versteckt?«
»Bestimmt«, erwiderte Astrid.
»Was zum Beispiel?« Charlies Neugier war geweckt.
»Gute Frage. Gold und Juwelen. Oder vielleicht Branntwein und Schmuggelware. Ich weiß es wirklich nicht.«
Astrid kletterte als Erste hinunter, Charlie folgte ihr und zuletzt kam Vendela. Sie hätte eigentlich oben warten können, aber die Treppe rief so viele schöne Erinnerungen wach. Auf groben Regalbrettern bewahrte Astrid die Kartoffeln und Mohrrüben, den Lauch und die Äpfel aus ihrem Garten auf. Am liebsten mochte Vendela das Regal, in dem die Sirupflaschen und die Marmeladengläser standen. Noch drei Gläser mit der Aufschrift »Vogelbeergelee 2005«. Offenbar war das ein gutes Vogelbeerjahr gewesen. Schwarze Johannisbeermarmelade, roter Johannisbeersaft, Holundersirup, Blaubeermarmelade, Brombeermarmelade, saure Gurken, Apfelmus … hier gab es fast alles, was das Herz begehrte. Vendela musste lächeln, als Charlie die Etiketten
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