Die Wälder von Albion
schenken?
Wie als Antwort auf ihre stumme Frage brüllte der Bär plötzlich laut auf und schlug mit der Tatze auf die Kette. Der Bärenführer ließ sie überrascht los, hob aber schnell einen spitzen Eisenstab, um den Bären damit in Schach zu halten. Aber der Bär war schneller. Unter den erschrockenen Rufen der Zuschauer drehte er sich so heftig im Kreis, daß die Kette den verblüfften Mann am Kopf traf und er blutüberströmt zu Boden stürzte. Die Musik brach ab, und die Musikanten brachten sich schnell in Sicherheit. Der Bär brüllte noch einmal. Es klang warnend und auch gequält. Dann trottete er auf die Schaulustigen zu. Die Menschen wichen erschrocken zurück. Eilan verlor im Gedränge das Gleichgewicht und wäre beinahe gefallen, wenn sie sich nicht an dem Absperrungsseil festgehalten hätte. Der Bär kam mit blutigem Schaum vor dem Maul immer näher. Eilan blieb wie gebannt stehen und starrte auf die Bestie. Plötzlich flogen von allen Seiten Speere durch die Luft und trafen das wild gewordene Tier. Jemand packte Eilan am Arm und zog sie von dem entsetzlichen Anblick fort. Am ganzen Leib zitternd ließ sie es willenlos geschehen. Dann hörte sie die Stimme einer alten Frau, die sich besorgt erkundigte, ob ihr etwas geschehen sei.
Mit der Disziplin und dem Willen der geübten Priesterin bedankte sie sich bei der Alten und versicherte ihr, daß sie keine Hilfe brauche. Ohne nachzudenken, folgte sie der Frau über den Platz und war froh, nicht mitansehen zu müssen, was hinter ihrem Rücken mit dem Tanzbären geschah.
Als sie schließlich stehenblieb und sich von der Alten verabschiedete, wurde Eilan bewußt, daß sie allein unter Fremden war. Sie konnte Miellyn und Senara nirgends entdecken.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren war Eilan völlig allein und auf sich selbst angewiesen. Sie war inzwischen an den ständigen Schutz in Vernemeton gewöhnt. Jetzt stellte sie fest, daß das Zusammensein mit ihren Schwestern die anderen Menschen nicht nur körperlich von ihr fernhielt.
Allein inmitten der Menge, überfielen sie ungewohnte Gedanken und Gefühle wie ein plötzlicher Sturm. Sie versuchte als Schutz, die Kraft der Ruhe aus der Erde zu ziehen, aber die vielen fremden Gesichter erfüllten sie durch ihre körperliche Nähe mit noch größerer Verwirrung. Eilan erkannte mit Entsetzen, daß ihr plötzlich die Kraft fehlte, das Wissen und Können anzuwenden, das sie besaß. Scheinbar willenlos ließ sie sich im Strom der Menschen treiben. Gefühle ganz anderer Art schienen von ihr Besitz zu ergreifen und nahmen ihr die Kontrolle, die ihr als Priesterin selbstverständlich geworden war.
Wieder einmal tauchte sie in eine andere Welt ein, in der ihr nichts von dem, was sie sah, bekannt vorkam. Alles war so fremd wie die Leute um sie herum. Eilan sah nicht den breiten Weg, der zum Heiligtum führte, und nicht den Erdhügel, vom dem aus Lhiannon die Göttin zu den Menschen herabrufen würde.
Durch die zahllosen Verkaufsbuden und Stände des Marktes wirkte auf Eilan alles fremd und unbekannt. Verwirrt hielt sie Ausschau nach einem blauen Gewand. Aber wenn sie von weitem eine Priesterin zu sehen glaubte und in diese Richtung lief, dann stellte sich heraus, daß sie sich geirrt hatte. Sie schien hilflos der Kraft ausgeliefert zu sein, die alle und alles um sie herum in ihren Bann gezogen hatte.
Ich muß mich nur schützen. Das habe ich in Vernemeton als erstes gelernt. Warum tue ich es nicht?
Es mußte ihr gelingen, ihre Panik zu unterdrücken und sich dem seltsamen Genuß, den ihr das alles bereitete, erfolgreich zu widersetzen. Keiner der vielen fröhlichen, festlich gestimmten Menschen dachte daran, einer Priesterin etwas zu tun. Wenn überhaupt jemand in der Menge sicher war, dann sie. Eilan mußte nur jemanden bitten, ihr den Weg zum Heiligtum zu zeigen.
Beinahe hätte sie über sich selbst gelacht. Was würden die Leute denken, wenn sie, eine Priesterin im blauen Gewand, sich nach dem Weg zum Heiligtum erkundigen mußte, weil sie sich »verirrt« hatte?
In diesem Augenblick stolperte sie über einen Stein und stieß mit einem Mann in einem dunklen Umhang zusammen. Der Mann murmelte etwas, und sie entschuldigte sich schnell, denn hätte er sie nicht festgehalten, wäre sie gefallen.
Plötzlich sah der Mann sie erstaunt an und rief: »Eilan! Bist du es wirklich?!«
Seine starken Hände griffen nach ihr, und er fragte: »Bist du vom Himmel gefallen?«
Eilan stockte der Atem, denn sie blickte in das
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