Die Wälder von Albion
Schmerz, und die Dunkelheit schien sie zu verschlingen.
In etwas klareren Augenblicken wußte Julia, daß etwas an den Wehen nicht stimmte… Sie war doch erst im sechsten Monat schwanger.
Ihr Götter, habt Erbarmen. Es dürfen keine Wehen sein. Ihr habt mir die Tochter genommen… bitte, laßt mir wenigstens meinen Sohn!
Die Dämmerung brach bereits an, als sie sich aufbäumte und den heißen Blutstrom zwischen den Schenkeln spürte. Lydia beugte sich über sie und murmelte leise beschwörende Worte. Jemand drückte ihr Tücher zwischen die Beine, um das Blut zu stillen. Aber einen Augenblick lang hatte sie etwas gesehen - es war klein und rot, und es bewegte sich nicht.
»Mein Sohn… «, flüsterte sie flehend, »gebt ihn mir… bitte!«
Weinend brachte ihr Lydia etwas in einem blutbefleckten Tuch und legte es ihr in den Arm. Man hatte das Köpfchen gesäubert, und Julia sah das winzige, vollkommene Gesicht. Aber es war so leblos wie die Blütenblätter einer abgerissenen Rose.
Sie hielt ihn noch immer in den Armen, als Gaius zu ihr ans Bett trat.
»Die Götter hassen mich«, flüsterte sie, und Tränen flossen über ihre Wangen.
Er kniete an ihrem Bett nieder, schob ihr die feuchten Haare aus der Stirn und küßte sie so zärtlich, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte. Einen Augenblick lang blickte er auf das totgeborene Kind. Dann zog er behutsam das Tuch über das kleine Gesicht und nahm ihr das Kind aus den Armen. Sie wollte es nicht zulassen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Er hielt das Kind in den Armen wie ein Vater, der seinen neugeborenen Sohn anerkennt, dann reichte er das Bündel stumm der alten Lydia.
Julia drückte schluchzend das Gesicht in die Kissen.
»Ich will sterben! Ich habe versagt! Ich will sterben!«
»Das darfst du nicht sagen, mein armer Schatz. Du hast drei Töchter, die dich brauchen. Du darfst jetzt nicht so weinen.«
»Mein Sohn, mein kleiner Sohn ist tot!«
»Still… Liebes… «
Gaius versuchte sie zu beruhigen. Dann trat Licinius ins Zimmer, und er sah seinen Schwiegervater hilflos an.
»Wir sind noch nicht alt, mein Schatz… «, flüsterte er Julia ins Ohr. »Wenn die Götter wollen, können wir noch viele Kinder haben… «
Auch Licinius küßte Julia und sagte liebevoll: »Und wenn du auch keinen Sohn bekommst, mein liebes Kind, was ist schon dabei? Du warst mir immer ein besseres Kind als viele Söhne… «
»Denk an deine lebenden Kinder… «, sagte Gaius beschwörend.
Aber in Julia schlugen die Wellen der Verzweiflung hoch.
»Du hast Secunda nie beachtet… warum sollten die anderen Töchter dir plötzlich etwas bedeuten? Für dich zählt nur, daß ich deinen Sohn verloren habe.«
»Nein… «, erwiderte Gaius ruhig, »du mußt mir keinen Sohn schenken. Du mußt jetzt schlafen.«
Er stand auf und sah sie ruhig an.
»Nur der Schlaf kann solche Wunden heilen. Morgen wird die Welt wieder anders aussehen.«
Aber Julia sah nur das zarte, fein geformte kleine Gesicht vor sich und glaubte, vor Kummer zu sterben.
In den langen Wochen von Julias Genesung stellte Gaius fest, daß ihn ihre Trauer mehr bekümmerte als seine eigenen Gefühle. Seit Secundas Geburt war er die meiste Zeit unterwegs gewesen und hatte nie besondere Zuneigung für das Kind entwickelt. Er trauerte nur äußerlich um ihren Tod.
Wenn er an den totgeborenen Sohn dachte, beschäftigte er sich mehr mit Eilans Sohn. In der römischen Gesellschaft war die Adoption des gesunden Sohnes einer anderen Familie eine traditionelle Lösung, wenn kein Erbe vorhanden war. Falls Julia ihm keine männlichen Nachkommen gebar - und nach Gesprächen mit dem Arzt schien das nicht mehr auszuschließen zu sein -, dann würde sie wahrscheinlich nichts dagegen einwenden, wenn er Eilans Sohn seinen Namen gab. Er liebte auch seine Töchter, allerdings auf eine andere Weise als Gawen.
Aber zuerst mußte Julia wieder gesund werden. Er hoffte, sie mit einer Pilgerfahrt zum Heiligtum der Muttergöttin in der Nähe von Venta Icenorum von ihrem Leid abzulenken, aber auch das half nicht, sie aus der schweren Krise herauszuholen. Als Gaius ihr schließlich anbot, mit der Familie nach Londinium zurückzukehren, lehnte sie ab.
»Hier sind unsere Kinder begraben«, erklärte Julia unter Tränen. »Hier fühle ich mich ihnen näher.«
Gaius hielt das für unlogisch. Die Stämme glaubten zwar, im Land der Silurer befinde sich der Eingang zur anderen Welt, aber er dachte, auf der Erde sei jeder Ort dem Land
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