Die Wälder von Albion
zu Mairi im hinteren Teil des Raumes, die inzwischen so unförmig geworden war, daß sie kaum noch gehen konnte. Eilan ging zur Tür, damit die beiden Frauen ungestört waren. Sie hörte jedoch, wie Caillean ihrer Schwester leise Fragen stellte. Es waren so viele, daß es sich um eine sehr gründliche Untersuchung handeln mußte, aber Cailleans Stimme wirkte irgendwie beruhigend.
Neugierig sah Eilan verstohlen zu, als die Priesterin mit der Untersuchung begann. Mairis Gesicht hatte sich entspannt. Sie ließ die Priesterin vertrauensvoll gewähren, und Eilan begriff plötzlich, daß ihre Schwester Angst gehabt hatte.
Caillean betastete Mairis ganzen Körper, und das konnte bestimmt nicht sehr angenehm sein. Als sie fertig war, lehnte sich Mairi seufzend zurück, und Caillean sagte beruhigend: »Ich glaube, das Kind wird heute noch nicht kommen und morgen vielleicht auch noch nicht. Ruh dich aus, denn du wirst deine ganze Kraft brauchen, wenn es soweit ist.«
Als Mairi versorgt war, bot Eilan der Priesterin einen Platz am Feuer an und setzte sich zu ihr. Caillean fragte leise: »Ist es wahr, daß ihr Mann verschwunden ist?«
»Wir fürchten, daß er von den Römern gefangengenommen worden ist«, erwiderte Eilan ebenso leise. »Das hat mir mein Vater erzählt, bevor ich hierher gekommen bin. Aber er hat mich gebeten, es Mairi nicht zu sagen.«
Cailleans Blick richtete sich nach innen. Nach einer Weile sagte sie: »Du darfst es ihr nicht sagen, aber ich fürchte, sie wird ihn nicht wiedersehen.«
Eilan sah sie erschrocken an. »Weißt du etwas über ihn?«
»Ich habe die Zeichen gesehen, und sie verheißen nichts Gutes.«
»Die arme Mairi, meine arme Schwester. Wie sollen wir es ihr sagen?«
»Jetzt darf sie auf keinen Fall etwas davon erfahren«, erklärte Caillean. »Nach der Geburt werde ich mit ihr darüber reden. Dann hat sie einen Grund, für ihr Kind zu leben. Wenn ich es ihr jetzt sage, dann wird sie sehr wahrscheinlich bei der Geburt sterben.«
Eilan wurde es schwer ums Herz, denn sie liebte Mairi sehr. Mit leichtem Schaudern war ihr aufgefallen, daß die Priesterin über den Tod ebenso sachlich gesprochen hatte wie über das Leben - ohne Bedauern, ohne jegliche Gefühle.
Für die heiligen Frauen von Vernemeton haben Tod und Leben bestimmt eine andere Bedeutung als für mich, dachte Eilan ehrfurchtsvoll. Sie lieben nicht, wie ich Gaius liebe, und sie wissen nichts von den Qualen, unter denen ich leide…
»Ich hoffe, sie hat Brüder, die das Erbe schützen und verwalten«, fuhr Caillean fort.
»Mein Vater hat keine Söhne«, erwiderte Eilan, »aber Cynric wird die Pflichten eines Bruders übernehmen, wenn Mairi in Not gerät.«
»Ist er nicht Bendeigids Sohn?«
»Er ist nur ein Ziehsohn. Zur Zeit ist er im Norden. Wir sind zusammen aufgewachsen. Cynric hat Mairi immer sehr gemocht.«
»Ich habe von Cynric gehört«, sagte Caillean und wiegte nachdenklich den Kopf. Ihr Blick hatte sich wieder nach innen gerichtet, und Eilan fragte sich, was die Priesterin alles sah oder wußte. Nach einer Weile nickte die große Frau ernst und sagte leise wie zu sich selbst: »Ja, deine Schwester wird die Hilfe ihrer Familie brauchen.«
In der Nacht zog aus dem Westen ein Sturm auf. Eilan lag wach im Bett und hörte, wie der Wind wie ein wildes Tier das Haus anfiel. Als der Morgen anbrach, bogen sich die Bäume noch immer unter der Gewalt der entfesselten Natur. Im Dach fehlten mittlerweile zwar ein paar Büschel Stroh, aber das Rundhaus ächzte und zitterte nur unter den Windböen, denn es war stabiler als ein fest gezimmerter Bau, der dem Sturm wahrscheinlich nicht gewachsen gewesen wäre. Der Regen peitschte über das Land; erstaunlicherweise blickte Caillean jedoch zufrieden auf die wolkenbruchartigen Schauer.
Als Eilan verwundert fragte, was an dem Sturm so schön sei, erwiderte die Priesterin: »Ich habe gehört, daß Räuber an der Küste gelandet sind und ins Landesinnere ziehen. Wenn alle Straßen und Wege überflutet sind, werden sie nicht bis hierher kommen.«
»Räuber?« rief Mairi ängstlich. Aber Caillean wollte nichts weiter darüber sagen und erklärte ihr: »Wenn man vom Bösen spricht, dann zieht man es an.«
Gegen Abend schien das Schlimmste überstanden zu sein, und der Wind legte sich etwas. Nur der heftige Regen ließ nicht nach. Die Welt schien in Wasser getaucht; Brunnen flossen über, und Bäche und Seen traten über die Ufer. Glücklicherweise lagerte in einem Schuppen neben dem
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