Die Waffen nieder!
war so überflüssig ... Es mußte doch irgendwo jemand geben, der es hätte ändern und aufheben können, der diesen Alp von meiner Brust und von der ganzen Menschheit mittels eines Machtwortes hätte abwälzen können – und die Sehnsucht verzehrte mich, diesem jemand mich zu Füßen zu werfen und zu fliehen: Hilf ab – aus Barmherzigkeit, aus Gerechtigkeit hilf ab! – Die Waffen nieder – nieder!! Mit diesem Rufe auf den Lippen erwachte ich eines Tages zum Bewußtsein. Mein Vater und Tante Marie standen am Fuße des Bettes und beschwichtigend sagte mir der erstere:
»Ja, ja, Kind, sei ruhig – alle Waffen nieder –«
Dieses Wiedererlangen des Ichgefühls nach langer Geistesabwesenheit ist doch ein eigentümlich Ding. Zuerst die frohe erstaunte Wahrnehmung, daß man lebt, und dann die gespannte, an sich selber gerichtete Frage: wer man eigentlich sei ...
Aber die plötzlich mit vollem Elan hereinbrechende Antwort auf diese Frage verwandelte mir die eben erwachte Daseinslust in heftigen Schmerz. Ich war die kranke Martha Tilling, deren neugeborenes Kind gestorben, deren Mann in den Krieg gezogen war ... Seit wann? Das wußte ich nicht.
»Lebt er? Sind Briefe da? Depeschen?« war meine erste Frage.
Ja, es hatte sich ein ganzer kleiner Stoß von Briefen und Telegrammen angesammelt, welche während meiner Krankheit angelangt.
Zumeist waren es nur Anfragen über meinen Zustand, Bitten um tägliche, um möglichst stündliche Benachrichtigung. Dies natürlich nur, solange der Schreiber an Orten sich befand, wo der Telegraph ihn erreichen konnte.
Man wollte mir nicht gleich erlauben, die Briefe Friedrichs zu lesen; – es hätte mich zu sehr aufregen und erschüttern können, meinten sie, und jetzt, da ich kaum aus dem Delirium erwacht, mußte ich vor allem Ruhe haben. So viel konnten sie mir sagen: Friedrich war bis jetzt unversehrt. Er hatte schon mehrere glückliche Gefechte durchgemacht – der Krieg müßte bald zu Ende sein; der Feind behauptete sich nur noch auf Alsen; und war dies einmal genommen, so würden unsere Truppen – ruhmgekrönt – heimkehren.
So sprach mein Vater tröstend auf mich ein. Und Tante Marie erzählte mir meine eigene Krankheitsgeschichte. Es waren nun mehrere Wochen seit dem Tage ihrer Ankunft vergangen, welcher zugleich der Tag war, an welchem Friedrich schied und an welchem mein Kind geboren wurde und starb ... Daran war mir die Erinnerung geblieben, aber was dazwischen lag: des Vaters Ankunft, die laufenden Nachrichten von Friedrich, der Verlauf meiner Krankheit – von dem allen wußte ich nichts. Jetzt erst erfuhr ich, mein Zustand sei ein so schlimmer gewesen, daß die Ärzte mich bereits aufgegeben hatten und mein Vater gerufen worden war, um mich »ein letztes Mal« zu sehen. An Friedrich waren die bösen Nachrichten gewissenhaft geschickt worden, aber auch die besseren Nachrichten – seit einigen Tagen nämlich gaben die Ärzte wieder Hoffnung – mußten zur Stunde schon in seinen Händen sein.
»Wenn er selbst noch am Leben ist« – warf ich mit einem schweren Seufzer ein.
»Versündige dich nicht, Martha,« ermahnte die Tante; »der liebe Gatt und seine Heiligen werden dich nicht auf unser Flehen hin gerettet haben, um dich dann so heimzusuchen. Auch dein Mann wird dir erhalten bleiben, für den ich, du kannst es mir glauben, ebenso heiß gebetet habe, wie für dich ... sogar ein Skapulier habe ich ihm nachgeschickt ... Ja, ja – zucke nur die Achseln – aber schaden können sie doch keinesfalls, nicht wahr?. Und wie viele Beispiele hat man, daß sie genützt haben ... Du selber bist mir auch wieder ein Beweis, was die Fürsprache der Heiligen vermag – denn du warst schon am Rande des Grabes, glaube mir – da habe ich mich an deine Schutzpatronin, die heilige Martha, gewendet –«
»Und ich,« unterbrach mein Vater, welcher in politischer Hinsicht zwar sehr klerikal gesinnt war, in praktischer Hinsicht jedoch durchaus nicht mit seiner Schwester sympathisierte, »ich habe aus Wien den Doktor Braun verschrieben, und der hat dich gerettet.«
Am nächsten Tage, auf mein dringendes Bitten, wurde mir gestattet, sämtliche von Friedrich eingelaufenen Sendungen durchzulesen. Zumeist waren es nur zeilenlange Anfragen oder ebenso lakonische Berichte: »Gestern Gefecht – bin unversehrt.« »Marschieren heute weiter – Depeschen zu adressieren nach ***.« Ein längerer Brief trug auf dem Umschlag den Vermerk: »Nur zu übergeben, wenn jede Gefahr vorüber ist.«
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