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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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zurückzukehren. Es war das erstemal, daß der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt.
    Dunkel fing es an zu werden; er richtete seinen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum Aussteigen vermutete und den Fußpfad nicht entfernt wußte, der nach dem Schlosse führte.
    Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als Scharlotte mit einer Art von Ängstlichkeit den Wunsch wiederholte, bald am Lande zu sein.
    Er näherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider fühlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er hatte sich festgefahren, und seine Bemühungen, wieder loszukommen, waren vergebens.
    Was war zu tun?
    Ihm blieb nichts übrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht genug war, und die Freundin an das Land zu tragen.
    Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug, um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen.
    Er hielt sie fest und drückte sie an sich.
    Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung und Verwirrung.
    Sie lag noch an seinem Halse; er schloß sie aufs neue in seine Arme und drückte einen lebhaften Kuß auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihrem Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand und rief: »Charlotte, werden Sie mir vergeben?« Der Kuß, den der Freund gewagt, den sie ihm beinahe zurückgegeben, brachte Charlotten wieder zu sich selbst.
    Sie drückte seine Hand, aber sie hob ihn nicht auf.
    Doch indem sie sich zu ihm hinunterneigte und eine Hand auf seine Schultern legte, rief sie aus: »daß dieser Augenblick in unserm Leben Epoche mache, können wir nicht verhindern; aber daß sie unser wert sei, hängt von uns ab.
    Sie müssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden. Der Graf macht Anstalt, Ihr Schicksal zu verbessern; es freut und schmerzt mich.
    Ich wollte es verschweigen, bis es gewiß wäre; der Augenblick nötigt mich, dies Geheimnis zu entdecken.
    Nur insofern kann ich Ihnen, kann ich mir verzeihen, wenn wir den Mut haben, unsre Lage zu ändern, da es von uns nicht abhängt, unsre Gesinnung zu ändern«.
    Sie hub ihn auf und ergriff seinen Arm, um sich darauf zu stützen, und so kamen sie stillschweigend nach dem Schlosse.
    Nun aber stand sie in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich als Gattin Eduards empfinden und betrachten mußte.
    Ihr kam bei diesen Widersprüchen ihr tüchtiger und durchs Leben mannigfaltig geübter Charakter zu Hülfe.
    Immer gewohnt, sich ihrer selbst bewußt zu sein, sich selbst zu gebieten, ward es ihr auch jetzt nicht schwer, durch ernste Betrachtung sich dem erwünschten Gleichgewichte zu nähern; ja sie mußte über sich selbst lächeln, indem sie des wunderlichen Nachtbesuches gedachte.
    Doch schnell ergriff sie eine seltsame Ahnung, ein freudig bängliches Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur, den sie Eduarden vor dem Altar getan.
    Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber.
    Sie fühlte sich innerlich wiederhergestellt.
    Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein.
    Eduard von seiner Seite ist in einer ganz verschiedenen Stimmung.
    Zu schlafen denkt er so wenig, daß es ihm nicht einmal einfällt, sich auszuziehen.
    Die Abschrift des Dokuments küßte er tausendmal, den Anfang von Ottiliens kindlich schüchterner Hand; das Ende wagt er kaum zu küssen, weil er seine eigene Hand zu sehen glaubt.
    ›O, daß es ein andres Dokument wäre! sagt er sich im stillen; und doch ist es ihm auch schon die schönste Versicherung, daß sein höchster Wunsch erfüllt sei.
    Bleibt es ja doch in seinen Händen!
    Und wird er es nicht immerfort an sein Herz drücken, obgleich entstellt durch die Unterschrift eines Dritten?
    Der abnehmende Mond steigt über den Wald hervor.
    Die warme Nacht lockt ins Freie; er schweift umher, er ist der unruhigste und der glücklichste aller Sterblichen.
    Er wandelt durch die Gärten; sie sind ihm zu enge; er eilt auf das Feld, und es wird ihm zu weit.
    Nach dem Schlosse zieht es ihn zurück; er findet sich unter Ottiliens Fenstern.
    Dort setzt er sich auf eine Terrassentreppe.
    ›Mauern und Riegel‹, sagt er zu sich selbst, ›trennen uns jetzt, aber unsre Herzen sind nicht getrennt.
    Stünde sie vor mir, in meine Arme würde

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