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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke.
    Er ging in dem großen Saale auf und ab, versuchte allerlei, und nichts vermochte seine Aufmerksamkeit zu fesseln.
    Sie wünschte er zu sehen, allein zu sehen, ehe noch Charlotte mit dem Hauptmann zurückkäme.
    Es ward Nacht, die Kerzen wurden angezündet.
    Endlich trat sie herein, glänzend von Liebenswürdigkeit.
    Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst gehoben.
    Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch.
    »Wollen wir kollationieren?« sagte sie lächelnd.
    Eduard wußte nicht, was er erwidern sollte.
    Er sah sie an, er besah die Abschrift.
    Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben, dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen überlief!
    »Um Gottes willen!« rief er aus, »was ist das?
    Das ist meine Hand!« Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte.
    Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen.
    Eduard hob seine Arme empor: »du liebst mich!« rief er aus, »Ottilie, du liebst mich« und sie hielten einander umfaßte.
    Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen.
    Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr, was er gewesen, die Welt nicht mehr, was sie gewesen.
    Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in die Augen, im Begriff, sich wieder zu umarmen.
    Charlotte mit dem Hauptmann trat herein.
    Zu den Entschuldigungen eines längeren Außenbleibens lächelte Eduard heimlich.
    ›O wie viel zu früh kommt ihr! sagte er zu sich selbst.
    Sie setzten sich zum Abendessen.
    Die Personen des heutigen Besuchs wurden beurteilt.
    Eduard, liebevoll aufgeregt, sprach gut von einem jeden, immer schonend, oft billigend.
    Charlotte, die nicht durchaus seiner Meinung war, bemerkte diese Stimmung und scherzte mit ihm, daß er, der sonst über die scheidende Gesellschaft immer das strengste Zungengericht ergehen lasse, heute so mild und nachsichtig sei.
    Mit Feuer und herzlicher Überzeugung rief Eduard: »man muß nur Ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle liebenswürdig vor!« Ottilie schlug die Augen nieder, und Charlotte sah vor sich hin.
    Der Hauptmann nahm das Wort und sagte:» mit den Gefühlen der Hochachtung, der Verehrung ist es doch auch etwas Ähnliches.
    Man erkennt nur erst das Schätzenswerte in der Welt, wenn man solche Gesinnungen an Einem Gegenstande zu üben Gelegenheit findet«.
    Charlotte suchte bald in ihr Schlafzimmer zu gelangen, um sich der Erinnerung dessen zu überlassen, was diesen Abend zwischen ihr und dem Hauptmann vorgegangen war.
    Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte, in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen.
    Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit.
    Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Wildhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille.
    Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen.
    Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen.
    Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die Anlagen werden sollten.
    Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns, daß er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person bewegen und regieren lasse.
    Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Fähr- und Steuermann zu sein.
    Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs Herz.
    ›Sagt er das mit Vorsatz?‹ dachte sie bei sich selbst.
    ›Weiß er schon davon?
    Vermutet ers?
    Oder sagt er es zufällig, so daß er mir bewußtlos mein Schicksal vorausverkündigt? Es ergriff sie eine große Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmöglichst zu landen und mit ihr nach dem Schlosse

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