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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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auf einen in der langen Reihe von Knöpfen auf der Schalttafel. »Du meinst diesen hier?«
    »Richtig. Aber paß auf …«
    Seine Warnung kam zu spät. In der Schwerelosigkeit des Alls löst jede Aktion eine gleichstarke Gegenreaktion aus. Dementsprechend reagierte die Kapsel auf Igarowitschs Vorwärtsbeugen mit einer leichten entgegengesetzten Schaukelbewegung. Igarowitsch war schon immer recht tolpatschig mit seinen Händen gewesen, ein Manko, an dem auch seine Kosmonautenausbildung nicht sonderlich viel verändert hatte. (Tatsächlich war die Wahl in erster Linie deswegen auf ihn gefallen, weil er ein angenehmes Äußeres aufwies, eine reizende Frau und reizende kleine Kinder hatte und bescheidenen bäuerlichen Verhältnissen entstammte: Jutschewski war das Hirn der Expedition, Igarowitsch das hübsche Gesicht.) Mit starrem Entsetzen sah Jutschewski, wie Igarowitschs Finger gegen den roten Knopf tippte und den Zündmechanismus auslöste.
    »Du Trottel!« stieß er ächzend hervor, als die Bremsraketen mit brüllendem Getöse zum Leben erwachten. »Du hast uns in die falsche Flugbahn geschossen – weiß Lenin, wo wir jetzt landen!«
    Igarowitsch gab keine Antwort. Der Schock war zu groß für ihn gewesen; er war in Ohnmacht gefallen.
     
    Irgendwo unten auf dem wolkenbedeckten Halbmond, in Hertfordshire, England, um genau zu sein, hingen die grauen Kumuluswolken tief über dem Horizont, an ihren Rändern schmutzigrot gefärbt von der blaßtrüben untergehenden Sonne und dem gespenstischen Schein der Straßenlaternen von Leyworth, einer kleinen Stadt, die ungefähr eine Meile entfernt lag. Nebel braute sich zusammen, der typische Hertfordshire-Nebel, und senkte sich über die Landschaft, setzte sich in den sumpfigen Mulden fest und wirbelte in dichten Schwaden über das hochstehende Gras, unter dem sich unzählige Kuhfladen in verschiedenen Stadien der Austrocknung verbargen. Irgendwo sang ein Vogel und flog dann, vielleicht weil er sich anderswo grünere Weiden erhoffte, mit raschelndem, schnellem Flügelschlag auf und verschwand am grauschwarzem Himmel. In diesem Teil der Erde regnete es gewöhnlich, und wenn es gerade einmal nicht regnete, dann sah es so aus, als würde es gleich zu regnen anfangen.
    Ein scharfer, kühler Nordwind fegte über die weite, sanft hügelige Wiesenlandschaft, wisperte in den Zweigen einer Reihe dürrer, skelettartiger Bäume, die sich auf dem Kamm einer Anhöhe gegen den dunklen Himmel abhob, und ließ die Äste knarren. Ansonsten herrschten nur Friede und ungestörte Stille.
    In einer feuchten Mulde in dem hohen Gras lagen, hin und wieder ein lästiges Insekt verscheuchend, zwei Leyworther: ein Mädchen und ein junger Mann. Das Mädchen war Janet Glass; sie war siebzehn und arbeitete bei Woolworth. Der Junge hieß Bob Brogan; er war zweiundzwanzig und ein Faulenzer und Tagedieb. Im Grunde war er antriebslos und bar jeder Initiative. Er zog es vor, immer erst dann etwas zu tun, wenn jemand ihn dazu aufforderte. Diese Angewohnheit war mit der Zeit zu einem solch dominierenden Bestandteil seines Lebens geworden, daß sie sogar der eigentliche Grund dafür war, daß er keinen Job hatte. Die Idee, einmal zum Arbeitsamt zu gehen und sich nach einem Job umzusehen, wäre ihm von allein nie in den Sinn gekommen; es mußte erst jemand kommen und ihn mit der Nase darauf stoßen.
    Sie lagen Seite an Seite im Gras und starrten geistesabwesend auf die untergehende Sonne. Das Mädchen räkelte sich unbehaglich. »Worüber denkst du nach?« Ein kurzes Schweigen folgte, dann antwortete Brogan:
    »Weiß nicht.« Er zog ein schmuddeliges Taschentuch hervor und schneuzte sich. »Über was denkst du nach?«
    Tatsächlich dachte das Mädchen gerade, wie kalt und feucht ihm allmählich die Beine wurden. Gleichzeitig aber dachte es, wie romantisch die Situation eigentlich sein müßte, und beschloß deshalb, daß es besser sei, nicht die Wahrheit zu sagen.
    »Hübsch hier, nicht?« sagte Janet, um das Thema zu wechseln. Der obere Rand der Sonne verschwand jetzt hinter den Kühltürmen des ein paar Meilen entfernten Kraftwerks.
    »Ja«, sagte Bob Brogan mit einiger Verzögerung. Er dachte einen Moment lang angestrengt nach. »Romantisch.«
    Janet schmiegte sich fester an ihn. Der wahre Grund dafür war, daß sie inzwischen erbärmlich fror, aber das brauchte Brogan nicht zu wissen. Irgend etwas tief unten in ihm begann sich zu regen.
    »Komm«, sagte er. Er legte den anderen Arm um sie und zog sie an sich.

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