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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Eintrittskarte für Lucy gefälscht, und ich habe Angst um ihn. Er kann seinen Job und seine Bürgerrechte verlieren, vielleicht sogar sein Leben, wenn man ihn erwischt. Doch er beruhigt mich und sagt, daß er sowieso in Ruhestand gehen will, falls nicht vorher das Museum zerstört wird. Er ist nicht gerade optimistisch. Soll doch der nichtsnutzige Enkel für ihn sorgen, sagt er. Es wäre an der Zeit, sagt er. Manchmal tut mir der Enkel etwas leid, der sich mit einem so störrischen Ahnen herumschlagen muß. In der Heimat war es üblich, die Ahnen aufzuessen, bevor sie dem Altersstarrsinn verfielen. Ich bin froh, daß das hier nicht üblich ist.
    »Ich bin Sergeant Bush sehr dankbar, daß er uns bekannt gemacht hat, Lucy«, flüstere ich.
    Die weiche menschliche Haut ist mir nicht mehr fremd; Lucy hat unter der weichen, fremdartigen Haut feste Muskeln. Das rosafarbene Muster war nur aufgemalt, eine Modeerscheinung außerhalb des Bezirks, die jetzt einem silberbraunen Spinnennetz gewichen ist. Lucys Vorliebe für Muster auf der Haut gefällt mir. Damit sieht sie weniger menschlich aus.
    »Ich auch«, sagt Lucy. Sie lächelt freundlich. »Ich mag große Männer.«
    Ich weiß nicht, was ich antworten soll, denn ich bin kein Mann, und doch weiß ich, daß sie mich meint. Ich glaube, daß die Freundschaft mit Lucy, dem zweiten Menschen, mit dem ich befreundet bin, eine ganz andere Art von Freundschaft ist.
    Sergeant Bush trägt nachts sein neues Hörgerät, und ich flüstere, und es geht mir gut.
     
    Vor mir steht Doktor Harvey, der Kurator dieses Museumsflügels. Der Direktor ist bei ihm. Dr. Harvey spricht in dem unterwürfigen, schmeichelnden Tonfall, mit dem er sich immer an seine Vorgesetzten wendet. »Es ist immerhin der letzte Nacama. Viele Besucher kommen nur seinetwegen.«
    Sein gleichgültiger Blick streift mich. »Hallo, Klatu«, sagt er abwesend. Ich habe nichts gegen Dr. Harvey, wenn er mich behandelt wie alle anderen; so, als wären alle nur komplizierte Puppen. Sein Desinteresse ist nicht diskriminierend.
    Aber den Direktor mag ich nicht. Er hat einen verschlagenen, ungesunden Geruch.
    Er ist ein schlanker, gutgekleideter Mann in mittleren Jahren. Er runzelt die Stirn und starrt eine Stelle zwanzig Zentimeter neben meinem rechten Auge an. »Ich sage ja auch nicht, daß wir das Stück beseitigen sollen. So schlecht geht es uns noch nicht. Aber es steht schon sehr lange hier, nicht wahr, John?«
    »Nun, da haben Sie natürlich recht.«
    Ich lausche mit wachsendem Unbehagen, doch ich kann keine unmittelbare Gefahr wittern.
    Der Direktor mustert Dr. Harvey mit einem väterlichen Blick. »Ich will Ihnen was sagen«, sagt er. »Wir lagern das Stück für zwei Jahre ein. Dann werden wir eine Nacama-Retrospektive eröffnen; das wird ohnehin mal Zeit. Und Sie sollen die Leitung übernehmen, John.«
    Ich denke nur: werden die Mauern des Museums noch zwei Jahre stehen?
    Aber Dr. Harvey ist dankbar, und der Direktor freut sich darüber, wie geschickt er seine Macht ausgespielt hat. Sie haken sich ein und wollen gehen; Dr. Harvey langt nach dem Knopf.
     
    Der Strom durchfährt mich, und ich lebe. Ich bin in einer winzigen Nische mit unverputzten grauen Betonwänden, die von einer einsamen gelben Birne erhellt wird. Ich krümme mich erschrocken. Mein Leben, oder jenen Teil, den ich für real hielt, verbrachte ich unter dem nördlichen Oberlicht im Museum.
    Zwei mir nicht bekannte Wartungsarbeiter schieben ihren Gerätewagen durch den Flur. »Also, ich glaube, es ist alles in Ordnung, Bill. Es klang wohl schlimmer, als es war. Hat sich nur ein paar Zentimeter gesenkt. Was meinst du, Bill?«
    »Das ist mir egal, Eddie. Ich will nur hier raus, bevor die Verrückten reinkommen. Ich hau ab, bevor es zu spät ist, und das solltest du auch machen.«
    »Da hast du recht, Bill. Ich hab gehört, daß es in dieser Woche ein paar Mal sehr knapp war.«
    »Und ob ich recht habe«, sagt der andere und drückt auf den Knopf.
     
    Sergeant Bush weckt mich. Ich danke den Göttern – Nacamas falschem Pantheon und den wirklichen Göttern, die es geben mag. Aber ich bin immer noch in der Nische.
    »Hey, Curly. Wunderst du dich nicht, mich zu sehen?« fragt er mit einem breiten gelben Grinsen.
    Für mich sind seit dem Urteilsspruch des Direktors nur einige Sekunden vergangen. Ich versuche, mich trotz des künstlichen Adrenalinstoßes zusammenzunehmen. Ich richte mich mühsam auf, und mir fallen die Worte der Wartungsarbeiter ein. Aber ich

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