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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Stimmen jetzt deutlich hören. Eine Stimme bestritt den größten Teil des Gesprächs, während die anderen mit kurzen, doch häufigen Zwischenbemerkungen reagierten.
    Um sich den Stimmen weiter zu nähern, mußte Mark sich zwischen den Stengeln der Ganja-Pflanzen hindurchschlängeln, da es hier keinen Pfad mehr gab. Er hielt sich beide Hände vors Gesicht, um sich gegen die Zweige abzuschirmen, und drang in die dichte Vegetation ein. An manchen Stellen war der Bewuchs so dicht, daß er das Gefühl hatte, durch eine Hecke zu brechen. Wenn es noch dichter würde, könnte er ohne Messer nicht weiterkommen.
    Dies ist kein kultivierter Anbau. Die Pflanzen stehen viel zu dicht beisammen. Es ist ein Dschungel, ein ganzer gottverdammter natürlicher Dschungel mit Pot!
    Während er sich weiter einen Weg durch ein Gewirr von herabhängenden Zweigen bahnte, stoben Wolken aus Pollen von den Blütenknospen auf, kitzelten ihn in der Nase und reizten seine Augen. Er unterdrückte ein Niesen.
    Was für ein Duft! Die weiblichen Pflanzen mußten sich auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Wirkungskraft befinden.
    Während er sich weiterarbeitete, sah er Abermillionen von mondbeschienenen Pollen, die in der Luft rings um ihn schwebten. Er schmeckte sie auf der Zunge und spürte, wie sie bei jedem Einatmen seine Nasenflügel auskleideten. Sie klebten auf dem Schweißfilm seiner Haut fest. Aber vor allem erfüllten sie seinen Kopf mit einem drückend schweren und trunken machenden Duft.
    Ihm fiel ein, daß er einmal in einem Buch über den Anbau von Marihuana gelesen hatte, daß die Erntearbeiter in Algerien beim Pflücken von indischem Hanf sich Tücher vor die Gesichter binden, damit sie die Pollen nicht einatmen. Wenn ein Arbeiter sein Tuch abnimmt, wird er so ungeheuer high – so high, daß er vergißt, wo er ist und was er tut, so high, daß er sich hinlegt und auf dem Feld einschläft, so high, so high, daß er davonschwebt, davonschwebt wie die Pollen, gleitet durch weiches Mondlicht, dessen Strahlen durch das Laub fallen und träge Arabesken und Schnörkel zeichnen und ihn in ein wogendes silbernes Meer aus Licht einhüllen, und wirklich, es stimmte, er rauchte seit dreißig Jahren Joints, doch niemals war er so schnell so high geworden, und er wurde immer noch mehr high, er schwebte hoch und höher und höher, und jeder neue Atemzug wogte durch seine Lunge in seinen Blutstrom und in sein Gehirn wie eine Flutwelle psychedelischer Energie.
    Er machte einen Schritt, und der schien endlos zu dauern. Er war sich ganz genau bewußt, wie sich sein Fuß vom Boden abhob und nach vorn ausschwenkte. Jede mikroskopische Weiterführung des biomechanischen Vorgangs des Laufens enthüllte sich ihm in Ultra-Zeitlupe.
    Während des nächsten Schrittes konzentrierten sich seine Augen auf ein einzelnes Ganjablatt an der Spitze eines Zweigs. Er erforschte die Blattdecke, das Glitzern des Harzes auf seiner Oberfläche, das feine Spitzenmuster der Adern und Rippen, die Zartheit seiner gezackten Ränder, und ihm schien, als durchschaute er mit einemmal alle Geheimnisse botanischer Konstruktionen, die Rätsel der Photosynthese und Transpiration klärten sich für ihn in einem Augenblick göttlicher Offenbarung.
    Während des nächsten Schrittes richtete er seine Augen in Naheinstellung auf ein anderes Blatt. Es bäumte sich ihm aus der Dunkelheit entgegen: gewaltig, bedrohlich, strahlend und mit metallisch glitzernden Lichtreflexen wie ein George-Lucas-Raumschiff oder vielleicht eine intergalaktische Kriegskanone der Maori; oder vielleicht war es auch nur eine große Bronze-Statue, von Grünspan überzogen, eine abstrakte expressionistische Skulptur, die im Wohnzimmer seines Geistes herumstand.
    Während des nächstes Schrittes sah er sie alle gleichzeitig, Tausende von kleinen grünen Gebilden, die ihn ihrerseits anblickten, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, was sie waren oder wo er war und was er tat oder wer er war. Er fühlte sich wie eine Motte oder ein Windhauch oder ein entkörpertes Bewußtsein in ständiger Bewegung tiefer hinein in eine fremdartige Traumwelt, unentrinnbar angezogen von den Stimmen der Wesen, die hier lebten.
    Die Stengel standen jetzt weniger dicht und gaben einen Weg frei, und schließlich trat er hinaus auf eine Lichtung. Vor langer Zeit war er auf einer anderen Lichtung gestanden, aber er konnte sich jetzt überhaupt nicht mehr daran erinnern. Jetzt gab es nur noch diese Lichtung, und in ihrer Mitte saßen acht

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