Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
all den Jahren nicht. Nicht wirklich.
»Hanne«, sagte er noch einmal, er wirkte steif und unbeholfen.
Einen Augenblick lang schien er die Hand aus der Manteltasche ziehen zu wollen, ließ sie dann aber wieder dort verschwinden, als finde er es bei genauerem Überlegen doch nicht ganz natürlich, seiner Schwester die Hand hinzustrecken.
»Was willst du?«
Ihre Stimme klang laut und scharf, sie ging jetzt wieder schneller.
»Und übrigens …«
Abrupt drehte sie sich zu ihm um.
»Es interessiert mich nicht. Was du zu sagen hast. Oder sonstwas. Wiedersehen.«
»Ich muß aber eigentlich darauf bestehen.«
»Von mir aus. Das hilft nichts.«
Wieder versuchte sie, ihn stehenzulassen. Sie wollte rennen, tat es aber nicht; sie zwang sich dazu, weiterzugehen, rasch, aber sie rannte eben nicht und hatte dann endlich ihre Haustür erreicht.
Er faßte sie am Arm.
»Du mußt mit mir reden, Hanne. Alexander kann nicht bei euch wohnen bleiben. Er muß nach Hause kommen, und darüber mußt du mit mir reden. Das verstehst du doch.«
Der Griff um ihren Oberarm war hart, er tat fast weh.
»Laß mich los«, fauchte sie.
»Ja. Wenn du versprichst, stehenzubleiben. Du mußt doch begreifen, daß du nicht einfach einen Sechzehnjährigen aufnehmen kannst, ohne mit seinen Eltern zu sprechen. Herrgott, Hanne, du bist …«
»Ich habe am Heiligen Abend mit dir gesprochen. Mir reicht das.«
Er lachte resigniert.
»Mit mir gesprochen? Nennst du diesen Anruf ein Gespräch?«
»Du hast erfahren, wo er war. Laß mich los.«
Er ließ nicht los, lockerte seinen Griff aber ein wenig, als habe er endlich eingesehen, daß er kein Recht besaß, sie zu zwingen. Sie riß sich los.
»Ihr habt ihn rausgeworfen«, sagte sie und rieb sich den Arm. »Ihr habt am Heiligen Abend euren eigenen Sohn auf die Straße gesetzt.«
»Das haben wir nun wirklich nicht. Natürlich haben wir ihn nicht rausgeworfen.«
Er sah plötzlich kleiner aus. Seine Schultern sackten in dem teuren Mantel nach unten, seine Gesichtszüge wirkten im Licht der Straßenlaterne viel zu scharf. Die Augen saßen unter der kräftigen Stirn tief in den Höhlen.
»Wir haben ihn nicht rausgeworfen, Hanne. Wir hatten nur einen … wir haben uns gestritten.«
»Worüber denn?«
»Das geht dich streng genommen nichts an.«
»Ihr wolltet ihn zu einem Psychologen schicken, weil er sich in einen Jungen verliebt hat.«
»Nicht deshalb, Hanne. Sondern, weil er so … Alexander ist einfach verwirrt. Er ist so … stur. Aufrührerisch. Ich glaube, er ist unglücklich. Er verbringt fast all seine Zeit allein, und in der Schule kommt er nicht mehr gut zurecht. Wir, also … Hege und ich meinen, es könnte ihm guttun, mit einem Fachmann zu reden. Und dieser Homokram …«
»Homokram!«
Hanne mußte sich zusammenreißen, um ihm nicht einen Schlag zu verpassen. Statt dessen trat sie einen Schritt zurück und breitete die Arme aus.
»Da hast du’s! Wo habe ich dieses Wort nur schon mal gehört?«
Sie legte sich in demonstrativer Denkerinnenpose den Zeigefinger an die Stirn.
»Jetzt weiß ich’s wieder. Ich glaube, bei Papa. Genau das hat er zu mir gesagt. Oder eigentlich eher über mich. Ich kann mich kaum daran erinnern, daß er jemals mit mir gesprochen hätte. Homokram. Zum Teufel, was ist Homokram denn bitte, Kåre?«
Ihr Bruder rieb sich die Augen. Die Geste hatte bei ihm etwas Hilfloses, etwas kindlich Resigniertes. Ihr Vater hatte das nie getan, und der Bruder hatte sonst solche Ähnlichkeit mit ihm. Das hatten sie alle, Hanne, ihr Bruder und Alexander, alle waren sie geprägt von den dominantesten Genen des Universums, wie die Mutter es einmal ausgedrückt hatte, und für einen Moment glaubte Hanne, daß Kåre weinte.
»Begreifst du nicht, daß der Junge selber entscheiden muß«, sagte sie, um dieses unerträgliche Schweigen zu beenden. Ihr Bruder stand einfach nur da, öffnete den Mund und schloß ihn wieder, rieb sich die Augen, schien in seinem Mantel zu schrumpfen. »Alexander muß seinen eigenen Weg finden. Er ist ein gesunder, intelligenter Junge, aber er ist noch sehr jung. In dem Alter hat man eben so seine Probleme.«
»Sieh an, was du alles weißt«, sagte er und richtete sich auf. »Obwohl du so gut wie nicht mit ihm gesprochen hast. Wenn ich das richtig verstanden habe, warst du so gut wie nie zu Hause, seit er bei dir aufgetaucht ist. Das ist eigentlich ziemlich typisch für dich, das muß ich schon sagen. Mit größter Selbstverständlichkeit Urteile
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