Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
über einen Jungen zu fällen, den du gar nicht kennst. Hege und ich dagegen, wir haben deiner Meinung nach wohl keine Ahnung. Wir kennen den Jungen, kümmern uns um ihn und lieben ihn ja erst seit sechzehn Jahren. Ich sehe, du hast dich nicht sehr verändert.«
»Du hast mich nie so gut gekannt, daß du das beurteilen könntest.«
»Ich war zwölf, als du geboren wurdest, Hanne. Ein zwölfjähriger Junge. Du kannst mir wohl kaum vorwerfen, daß ich die Gesellschaft einer kleinen Rotzgöre nicht wollte. Und außerdem, hast du dir jemals überlegt, daß es vielleicht nicht nur unsere Schuld war, was passiert ist? Daß die Verantwortung dafür, daß du aus der Familie herausgefallen bist, nicht ausschließlich bei Mama und Papa lag?«
»Das muß ich mir einfach nicht anhören.«
»Du bist schwierig, Hanne, schwierig und eigen. Das warst du schon seit deiner Geburt. Ich weiß noch, wie du drei geworden bist …«
Sein Lachen klang so heiser, verzweifelt und wütend, daß sie sich die Geschichte widerwillig ein weiteres Mal anhörte.
»Mama hatte einen leckeren Kuchen gebacken. Hatte dir ein neues Kleid gekauft. Es war rot, das weiß ich noch. Sie hatte ein rotes Kleid gekauft, und ich mußte deinetwegen zu Hause bleiben. Ich war fünfzehn und mußte zu Hause bleiben, weil du Rotzgöre Geburtstag hattest. Mama hatte alle möglichen Kinder aus der Nachbarschaft eingeladen. Aber du hast alles verdorben.«
Seine Worte taten ihr weh. Es war eine Geschichte, an die sie sich nicht erinnern konnte, die nicht die ihre war. Kåre wußte Dinge über Hanne, von denen sie selbst keine Ahnung hatte. Er besaß ein Stück von ihr, von ihrem Leben und ihrer Geschichte, und davon wollte sie nichts wissen.
»Du hast das Kleid zerschnitten«, sagte er jetzt. »Ich kann mich noch an die dünnen roten Stoffstreifen erinnern. Mama weinte. Du saßt nur wütend in einer Ecke und starrtest sie aus deinen bösen Augen an, diesen Augen …«
»Ich war drei Jahre alt«, sagte Hanne langsam. »Du wirfst mir etwas vor, das passiert ist, als ich drei Jahre alt war. Absurd.«
Wieder erklang sein Lachen, heiser, fast verzweifelt.
»Ich kann auch andere Geburtstage anführen«, sagte er. »Deinen elften, zwölften, dreizehnten. Nenn einfach eine Zahl. Ich kann die ganze Nacht Geschichten erzählen, die zeigen, daß du nie zu uns gehören wolltest. Daß du dich immer gegen uns gewehrt hast. Daß du auf Teufel komm raus anders sein wolltest. Wenn du deinen Willen nicht durchsetzen konntest, dann liefst du einfach weg. Weglaufen ist ja sowieso deine Spezialität, Hanne. Was du nach Cecilies Tod ja nachdrücklich unter Beweis gestellt hast.«
Hanne schloß die Augen. Etwas drückte ihre Brust zusammen. Ihr Atem stockte.
»Nimm diesen Namen nicht in den Mund«, preßte sie hervor. »Du hast nicht das Recht, über Cecilie zu sprechen.«
Sie war nicht sicher, ob er das gehört hatte, so leise hatte sie gesprochen. Es fiel ihr wirklich schwer, zu atmen. Sie mußte sich an die Mauer lehnen, er kam näher, seine Schritte waren deutlich zu hören. Sie wollte weitergehen, bekam aber keine Luft.
»Ich war immerhin auf ihrer Beerdigung«, sagte er. »Das ist mehr, als man von dir behaupten kann. Du warst weggelaufen, wie immer, wenn es Schwierigkeiten gibt.«
Seine Stimme war jetzt gleich hinter ihr, dicht neben ihrem Ohr, sie konnte seinen Atem an ihrer Wange spüren.
»Ja, ich war da. Ich wollte mit dir reden. Wollte dir zeigen, daß ich mit dir trauerte. Aber du warst nicht da. So, wie du nicht zu Hause warst, als Mama fünfzig wurde. Du warst neun Jahre alt, Hanne, und auch in dem Alter muß dir klar gewesen sein, wie sehr du sie verletzt hast. Du bist nie da, wenn jemand dich braucht. Also erzähl du mir nicht, daß ich nicht zu meinem Sohn halte. Ich liebe Alexander, ich will ihm helfen, und ich will, daß er nach Hause kommt.«
Atmen, dachte sie. Ausatmen. Einatmen.
Seine Stimme war zuletzt sanfter geworden, weniger angestrengt. Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter, sie brannte durch den Stoff ihrer Jacke hindurch, durch ihren Wollpullover, sie spürte seine Finger auf ihrer Haut und wollte sie wegschieben. Aber sie brauchte alle Kraft zum Atmen, dazu, ihre Lunge zur Aktivität zu zwingen, und deshalb blieb Kåres Hand liegen.
»Natürlich liegt die Verantwortung vor allem bei Mama und Papa. Sie waren erwachsen, du nicht. Aber du warst stur, eigensinnig. Du wolltest ganz einfach nicht. Du wolltest immer etwas anderes sagen und tun als alle
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