Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
anderen. Immer. Genau wie …«
Jetzt brach ein heftiger Regen los. Beide schauten kurz auf, als hielten sie einen so abrupten Wetterwechsel nicht für möglich; von Nieselregen und Windstille zu Sturm und Wolkenbruch, und das innerhalb von Sekunden. Hanne merkte, daß ihr das Atmen jetzt wieder leichter fiel.
»Genau wie Alexander«, rief sie in den Lärm des Regens hinein, der auf den Boden prasselte, auf die Hausdächer, auf Kåres Schultern, rasch und dumpf. »Er ist wie ich. Ihr werdet ihn kaputtmachen.«
Sie brach in Tränen aus. Sie merkte es zuerst gar nicht, sie begriff erst, daß sie weinte, als die Regentropfen auf ihrer Zunge plötzlich salzig schmeckten.
»Wir werden ihn nicht kaputtmachen«, widersprach Kåre. »Wir werden ihm helfen. Dieser Homokr … diese Homosexualität, auf die er sich beruft …«
»Auf die er sich beruft«, zischte Hanne erbost. Keuchte diese Worte noch einmal:
»Auf die er sich beruft. Das glaubst du also. Daß er sich in einen Jungen verliebt hat, um Schwierigkeiten zu machen und seine Individualität zu demonstrieren.«
»Das nicht so ganz. Ich wollte nicht sagen … auf die er sich beruft. Entschuldige. Das war blöd ausgedrückt. Aber Alexander ist noch zu jung, um solche Entscheidungen zu treffen. Wir müssen ihm auf den richtigen Weg helfen. Er wird große Probleme bekommen, wenn er sich in dieser Hinsicht irrt. Das weißt du selbst doch am besten, Hanne. Alles wird leichter, wenn er begreift, daß das nur eine Episode war. Eine Phase in seinem Leben.«
Hanne drehte sich zu ihm um und ging ein paar Schritte rückwärts. Sie weinte heftig, und der Regen schlug ihr ins Gesicht. Ihre Kleider waren jetzt völlig durchnäßt, sie trieften, eiskalter Winterregen lief ihr den Rücken hinunter, unter ihre Kleidung, ihre Stiefel gurgelten bei jedem langsamen Schritt, mit dem sie sich von ihrem Bruder entfernte.
»Und was, wenn es keine Phase ist«, schluchzte sie, »was passiert, wenn Alexander wirklich schwul ist? Weißt du überhaupt, was ihr ihm jetzt schon alles angetan habt? Ihm und seinem Anderssein? Seiner Sturheit, seinem Eigensinn, allem, was ihr für unmöglich haltet? Allem, worin er mir ähnelt? Was?«
»Hanne … Hanne!«
Mit vom Regenwasser schweren Füßen lief sie über den Hof. Ihre Jackentasche klebte vor Feuchtigkeit zusammen, die Schlüssel waren eiskalt; sie wühlte und schluchzte und konnte sie endlich hervorziehen. Der Haustürschlüssel glitt ins Schloß.
»Hanne! Du mußt doch …«
Der Ruf ihres Bruders verstummte abrupt, als die Tür ins Schloß fiel. Hanne brauchte eine Viertelstunde, bis sie aufhören konnte zu weinen. Dann ging sie die Treppe hinauf.
Freitag, 27. Dezember
»Gut gemacht, Annmari!«
Erik Henriksen versetzte ihr einen aufmunternden Rippenstoß und machte sich daran, Ordner und Papiere zusammenzupacken, ohne dabei ein allzu großes Chaos anzurichten. Der Richter hatte das Untersuchungsgericht bereits verlassen. Die Verhandlung war kürzer gewesen, als irgendwer erwartet hatte. Carl-Christian und Mabelle Stahlberg waren für vier Wochen in Untersuchungshaft genommen worden, davon zwei mit Post- und Besuchsverbot. Diese Entscheidung entsprach in allem Annmaris Antrag. Alle waren auf eine ewig lange Verhandlung vorbereitet gewesen. Die frisch ernannten Anwälte des Ehepaars, zwei Schwergewichtler aus Oslos oberster Promischicht, hatten sich offenbar für eine andere Strategie entschieden. Sie schilderten den Fall kurz aus der Sicht ihrer Mandantin oder ihres Mandanten, erklärten sich aber dann mit der Untersuchungshaft einverstanden, um der Polizei die Möglichkeit zu geben, dieses offenkundige, haarsträubende Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Natürlich seien beide nicht schuldig, und die Anwälte betonten mehrmals, daß vier Wochen das äußerste seien, wozu ihre Seite sich überhaupt bereit erklären würde.
»Das Hauen und Stechen wird also bis zur nächsten Runde aufgeschoben«, flüsterte Erik. »Bestimmt haben Sie CC und Mabelle gefoltert, damit die sich darauf einlassen. Auf jeden Fall Mabelle.«
»Wenn wir doch nur Hermine finden könnten«, murmelte Annmari als Antwort und half ihm dabei, die Unterlagen in seine übervolle Tasche hineinzustopfen. »Wir müssen sie einfach bald finden.«
Im Gerichtssaal wimmelte es nur so von Presseleuten. Den meisten ging es vor allem um die Verteidiger, aber vier oder fünf warteten schon ungeduldig auf Annmari, nur notdürftig von einem Gerichtsdiener in Schach
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