Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
gesetzt«, las Annmari vor. »Aber«, sie blätterte wieder zurück zur ersten Seite, »es gibt keine Unterschriften von Zeugen …«
»Was?«
»Sieh hier! Keine Zeugen. Und damit ist es ungültig.«
Silje griff zu dem Testament und sah es noch einmal durch. Sorgfältig musterte sie jede Seite, hielt sie vor ihr Gesicht und legte das Papier schräg, um das Licht der Fenster einzufangen, als könnten die Zeugen mit Zitronensaft unterzeichnet haben.
»Jetzt begreife ich gar nichts mehr«, sagte sie verdutzt. »Der Inhalt ist nämlich ziemlich sensationell.«
»Worin besteht der denn?« fragte Annmari.
Silje setzte sich auf die Fensterbank und winkte ihre Kollegin zu sich. Sie beugten sich beide zum Fenster hin, das trübe Tageslicht wurde ergänzt durch eine Lampe, die draußen auf der Terrasse brannte.
»Schau mal«, sagte Silje und zeigte auf einen Paragraphen. »Hier steht, daß die Reederei in drei Teile geteilt werden soll. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann bekommen Hermine, Preben und Carl-Christian jeweils dreißig Prozent der Aktien. Und dann bleiben zehn übrig, nicht wahr?«
»So weit kann ich auch noch rechnen, ja.«
»Und die fallen wiederum an Preben, den ältesten Sohn.«
»Das bedeutet, daß Preben in Wirklichkeit vierzig Prozent bekommt«, sagte Annmari. »Keine sonderlich günstige Aktienkonstellation. Niemand hat die Mehrheit. Aber wenn zwei Geschwister sich einigen, dann können sie Nr. 3 ausschalten. Was in aller Welt …«
Beide verstummten. Annmari hob das Gesicht und beobachtete den Staub, der im Licht des Fensters tanzte; winzige Teilchen, die in einem unmerklichen Luftzug auf- und abstiegen.
»Hermann Stahlberg wußte genau, wie ein Testament auszusehen hat«, sagte sie langsam; sie schien laut zu denken. »Das letzte hatte er doch mit der Hand geschrieben. Dabei hatte er alle Formalitäten beachtet. Hatte Zeugen und überhaupt. Warum sollte er das hier also hergeben …«
»Hergeben?«
»Ja!«
Annmari deutete auf das Dokument.
»Das muß er doch weggegeben haben. Er hat hier doch nicht gewohnt. Und warum sollte er ein Testament aus der Hand geben, das so ganz anders ist als das erste, was doch bedeuten muß, daß er erst vor drei Wochen seine Ansicht über Carl-Christian geändert hat. Und dann sorgt er nicht einmal dafür, daß dieses Testament Gültigkeit besitzt? Ich meine, es sieht ja chic aus, persönliches Briefpapier und überhaupt …«
Sie bückte sich über das Testament auf dickem, cremegelbem Büttenpapier.
»Und dann vergißt er etwas so Wesentliches wie Zeugen …«
»Kann doch sein, daß es noch nicht fertig war«, regte Silje an.
»Es ist doch unterschrieben. Und das muß vor Zeugen geschehen.«
»Vielleicht hat er sich die Sache anders überlegt.«
»In dieser Familie wundert mich gar nichts mehr, aber wenn er sich die Sache anders überlegt hätte, hätte er das doch nicht unterschrieben. Nein …«
Plötzlich trat Annmari einen Schritt vor. Sie schaute sich im Zimmer um. Ihr Blick ruhte auf den vollgestopften Bücherregalen, und ohne sich zu Silje umzudrehen, fragte sie:
»Ihr habt das also im Bücherregal gefunden, ja?«
»Ja.«
»Dann muß diese Wohnung durchkämmt werden. Ich will, daß sie buchstäblich auf den Kopf gestellt wird. Alle Bücher werden rausgenommen und durchsucht. Alle Schränke ausgeleert. Die Bilder kommen von der Wand. Sucht nach einem Safe. Zieht Schubladen heraus, seht die Kleider durch, macht …«
»Schon verstanden, Annmari. Aber was glaubst du, was wir finden werden?«
Annmari hatte sich eine Haarsträhne in den Mund gesteckt und kaute darauf herum, gab aber keine Antwort. Bewegungslos stand sie mitten im Zimmer. Das Mobiltelefon klingelte, aber sie reagierte nicht darauf.
»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Aber ich sehe nur die Möglichkeit, daß Hermann auf irgendeine Weise gezwungen worden ist, dieses Testament aufzusetzen. Wenn es denn überhaupt echt ist. Das müssen wir überprüfen lassen. Aber nehmen wir mal an, daß es wirklich Turids und Hermanns Unterschriften sind … dann hat er dafür gesorgt, daß es nicht gültig ist. Das war nur möglich, wenn die Person, für deren Hände dieses Dokument bestimmt war, sich mit Gesetzen nicht weiter auskannte. Aber daß ein Testament vor Zeugen unterschrieben werden muß, kann wohl nur ein einziges Mitglied der Familie Stahlberg nicht gewußt haben.«
»Hermine«, sagte Silje leise. »Die wirkt doch ziemlich daneben.«
»Genau. Und dies
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