Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Nacht auf den vergangenen Freitag hatte sie im Bett gelegen und sich hin und her gewälzt; sie hatte an den Alptraum von Prozeß gedacht, der noch kommen würde, mit langen Perioden des Stillstandes und dem einen oder anderen direkten Rückschlag. Aber statt dessen schien die Sache einer blitzschnellen Aufklärung entgegenzugehen.
Mit ausdruckslosem Gesicht starrte sie das Magazin an. Billy T. kratzte sich an der Leiste und fluchte energisch.
»Jetzt sag schon was! Das ist doch ein echter Durchbruch! Die Ballistik und die Technik werden jetzt erst mal ganz schön zu tun haben, aber ich wette eine Tasse Kaffee, daß die Sache für sie jetzt interessant wird.«
Das Telefon klingelte.
Annmari griff zum Hörer und kläffte ein »hallo«. Dann verstummte sie. Ihre Miene zeigte keine Verärgerung mehr, sondern Interesse, dann sagte sie mit einem ungläubigen Ausdruck im Gesicht:
»Sie kommen sofort in mein Büro. Und dann sehen wir weiter. Danke.«
Langsam legte sie den Hörer wieder auf die Gabel.
»Ein Zeuge«, sagte sie. »Hat sich gemeldet. Ein Mann, der sicher ist, daß vorige Woche Donnerstag abends eine Frau durch die Eckersbergs gate zur Gyldenløvesgate gerannt ist.«
Billy T. starrte sie skeptisch an.
»Und dann meldet er sich erst jetzt? Acht Tage später?«
»Die Rezeption hat angerufen. Der Mann steht unten. Er hat es schon am Freitag versucht und war schließlich sauer, weil er einfach nicht durchkam. Er kam immer nur bis zur Zentrale, sagt er, dann riß die Verbindung ab, wenn er durchgestellt werden sollte.«
»Am Freitag hatten wir hier doch Wildwestzustände«, sagte Billy T.
»Genau. Und dieser Mann wollte mit seiner Frau über Weihnachten nach Italien fahren und hat die Sache dann aufgegeben. Ist heute zurückgekommen. Nachdem er die Zeitungen der letzten Woche gelesen hat, war er so schockiert, daß er jetzt unten im Foyer steht.«
»Schockiert?«
»Ja«, sagte Annmari und strich sich langsam über die Wangen. »Er hat Bilder in den Zeitungen gesehen. Er sagt, daß es Hermine war. Die wie gehetzt von der Eckersbergs gate 5 davonstürzte. Sie rannte wie eine Irre, so hat er sich ausgedrückt. Rannte wie eine Irre …«
Dann knallte sie mit der Hand auf den Tisch.
»Aber wo zum Teufel steckt Hanne Wilhelmsen?«
Hermine Stahlberg war nicht tot. Ihr Unterarm war nackt und unter der Haut pulsierte ganz schwach eine Ader. Auch an ihrem Hals waren Lebenszeichen zu erkennen. Silje tastete sicherheitshalber noch einmal nach. Sie wagte nicht, die Frau zu bewegen, die halbnackt in einer Abstellkammer auf dem Boden lag. Aus einem Regal hatte eine Flasche Reinigungsmittel sich über sie ergossen. Der synthetische Geruch vermischte sich mit dem Gestank von Urin und Exkrementen. Silje deckte Hermine mit einer schottisch karierten Decke zu. Hermine drückte ein Plüschkaninchen an sich; ein schmutzigrosafarbenes Tier mit abgerissenem Ohr und überdimensionalen Glotzaugen aus Kunststoff. Behutsam versuchte Silje, ihren Griff zu lockern. Ihre Finger klebten wie festgefroren an dem verdreckten Plüschfell. Silje ließ Hermine ihr Schmusetier behalten.
Erik Henriksen fragte sich, was er eigentlich erwartet hatte. Die Vorstellung, was ihnen in Alfreds Wohnung schlimmstenfalls bevorstehen könnte, war so widerlich gewesen, daß er auf der ganzen Fahrt hierher versucht hatte, sich an alte Schlagertexte und die Flüsse Asiens zu erinnern.
»Ruf einen Krankenwagen an, Erik.«
Silje kam auf ihn zu und versetzte ihm einen energischen Rippenstoß. Er stand breitbeinig mit erhobenen Händen da, die Finger leicht gespreizt, wie um ein Kind hochzuheben.
»Oder zwei«, drängte sie. »Wir brauchen zwei Krankenwagen, Erik.«
»Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte«, sagte er.
»Erik! Schnapp dir dein Telefon und ruf die Krankenwagen. Und zwar sofort!«
Er begriff nicht, warum sie das nicht selbst machte. Seine Hände wollten sich nicht bewegen. Der eiskalte Schweiß kitzelte unter seinen Armen.
»Sie wollte zur Polizei gehen«, jammerte Alfred aus einer Ecke in der Küche. »Sie wollte zur Polizei gehen, verstehen Sie! Ich konnte die Bilder doch nicht finden! Ich habe bei Hermine überall gesucht, aber ich konnte sie nicht … Sie müssen doch einsehen, daß ich sie nicht zur Polizei gehen lassen konnte!«
Der korpulente Mann preßte sich in eine Ecke. Ab und zu versuchten seine Arme gewaltige Ausfälle ins Nichts, es war eine komische Karateparodie.
»Ich habe nichts verbrochen«, sagte er laut und
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