Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Eigentlich …«
Sie sprang auf und griff zu ihrem Dufflecoat, der hinter der Tür an einem Haken hing.
»Hier die Brieftasche«, sagte sie und klopfte sich auf den linken Oberschenkel. »Und die Schlüssel hier.«
Sie zog einen ziemlich umfangreichen Schlüsselbund aus der rechten Tasche.
»Damit nicht in einer zuviel steckt«, erklärte sie. »Eins links, eins rechts.«
»Worauf willst du hinaus, Hanne? Daß der Mörder die Schlüssel eingesteckt hat? Meinst du, die Morde seien wegen der Schlüssel geschehen? Aber was sollte irgendwer damit anfangen können? Wir waren doch dort, Hanne. In Sidensvans’ Wohnung. Da gab es nichts. Nichts von Wert. Abgesehen von dem Computer. Niemand mordet wegen eines Computers. Außerdem ist er ja noch da. Das haben wir selbst gesehen.«
»Aber es kann doch etwas im Computer gewesen sein«, sagte Hanne und lächelte plötzlich breit. »Überhaupt kann dort etwas gelegen haben, in dem ganzen Chaos, etwas, das jetzt nicht mehr da ist. Genug davon. Ich muß mir das noch genauer überlegen. Danke für die Auskunft. Du solltest jetzt machen, daß du nach Hause kommst.«
Es war fünf nach sieben, und Silje zuckte mit den Schultern und gehorchte. Hanne blieb sitzen, ohne viel mehr zu tun als nachzudenken, bis Marry wütend anrief und sie nach Hause befahl.
Sie hatte die Kontrolle verloren.
Hermine Stahlberg war an Rauschmittel gewöhnt. Auch wenn ihre Familie immer wieder – und zumeist im Stillen – die Nase über ihr etwas zu liberales Verhältnis zum Alkohol gerümpft hatte, hatte doch niemand etwas von Hermines Konsum von Pillen und stärkeren Mitteln gewußt. Hermine bewegte sich in zwei Sphären. Sie war reich, schön, verwöhnt und heiß geliebt. Zugleich lebte sie in einer anderen Welt, auf der Schattenseite ihres eigenen Daseins. Bisweilen in Oslo, häufiger im Ausland. Seit einigen Jahren hatte sie die Kontrolle über ihr Leben gewonnen, ein Gleichgewicht in einer doppelten Existenz.
Jetzt hatte sie diese Kontrolle verloren.
Das Zimmer drehte sich um sie, und sie war die Achse. Sie versuchte, sich hinzulegen, verfehlte aber das Bett. Übelkeit stieg in ihrem Hals auf. Sie bekam keine Luft. Das Erbrochene war in ihrer Kehle steckengeblieben. Benommen drehte sie sich auf die Seite.
Ihr Bruder beugte sich über sie.
Sie glaubte jedenfalls, daß er es war. Sicher wusste sie es nicht. Es konnte auch Onkel Alfred sein. Ihr war das scheißegal.
»Verdammt«, nuschelte sie und grinste hilflos.
Sie konnte noch immer Laute von sich geben. Sie war nicht tot. Das Gesicht ihres Bruders war grün und verzerrt. Vielleicht war es ja doch Onkel Alfred. Es spielte keine Rolle. Die Gestalt beugte sich über sie. Das Gesicht verfärbte sich wiederum, es war jetzt gelb, mit roten Flecken, die sich ausbreiteten und zur Decke hochschwebten wie blutige Seifenblasen. Hermine lachte.
»Alfred«, stöhnte sie und riß den Mund auf.
Der Mann sagte etwas. Hermine konzentrierte sich auf seinen Mund. Der bewegte sich, in seltsamen Formen, sinnlos, denn es kam kein Geräusch. Sie hörte nichts. Sie war taub geworden.
»Taub«, sagte sie und lachte schallend. »Taub, Alfred.«
Carl-Christian Stahlberg legte seine Schwester auf die Seite. Er zögerte kurz, dann steckte er ihr die Finger in den Mund. Ihre Zunge kam ihm zu groß vor, doch er konnte sie nach vorn ziehen und ihren Mund von Schleim und Erbrochenem befreien. Er weinte ununterbrochen und konnte fast nicht erklären, wo er war, als er endlich den Notruf erreichte. Als der Krankenwagen eintraf, konnte er sich jedoch zusammenreißen. Er hatte sich den Gestank des schwesterlichen Verfalls abgewaschen.
Er hatte sogar seinen Schlipsknoten straff gezogen.
Der alte Mann im Wald fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Es war Samstag, und er hatte es sich mit Kaffee und einem Kuchen aus dem Laden vor dem Fernseher gemütlich machen wollen. Tiefe Stille hatte sich über Nordmarka gebreitet. Er hatte im leichten Schneefall seinen Abendspaziergang gemacht. Die herunterbrennenden Holzscheite im Kamin füllten seine Kate mit warmem Licht, und alles war behaglich und vertraut. Trotzdem war er nervös.
Und daran war der Eisfischer schuld.
Der keiner gewesen sein konnte. Der Schnee um das Loch im Eis war kaum festgetrampelt gewesen. Keine Spur hatte darauf hingewiesen, daß jemand dort gesessen hatte. Der Fremde schien gekommen zu sein, ein Loch ins Eis gebohrt und sich dann gleich wieder entfernt zu haben.
Der Alte war früher an diesem Tag
Weitere Kostenlose Bücher