Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Tannenbaum«, brüllte ein Kinderchor.
In der Ecke vor der Balkontür löffelte ein riesengroßer Weihnachtsmann seinen Brei.
»Hohoho«, lachte er und hob den Arm zu einem mechanischen Gruß.
»Herrgott«, flüsterte Hanne.
An den Wänden hingen rote und grüne Flechtkörbe, mit Sprühfarben bearbeitete Tannenzweige, Messingsterne und Goldranken. Wie ein Denkmal für schlechten Geschmack ragte der Baum auf und endete im größten Stern, den Hanne jemals gesehen hatte. Marry drückte aufgeregt auf einen Schalter an der Wand. »Stille Nacht«, klimperte der Stern zweistimmig und rotierte langsam.
Hanne mußte lachen.
»Gefällt dir das nicht?« heulte Marry. »Ich hab seit Mitternacht geschuftet!«
Jetzt war auch Nefis aufgestanden. Begeistert schaute sie sich um.
»Wunderbar«, keuchte sie inmitten des Chaos. »Wie ungeheuer norwegisch!«
»Nein«, schluchzte Hanne. »Das ist … das ist …«
Plötzlich war alles still. Marry hatte auf eine Art Hauptschalter gedrückt und starrte Hanne vorwurfsvoll an.
»Was ist das, sag es noch mal?«
»Das ist …«
Hanne breitete die Arme aus und lächelte strahlend.
»Das ist verflixt noch mal die phantastischste Weihnachtsdekoration, die ich je in meinem Leben gesehen habe! Marry, du bist einfach ein Märchen! So was ist mir noch nie passiert.«
»Echt? Nefis hat gesagt, ich dürfte bestellen, was ich will. Ist alles geliefert worden, weißt du. Ich hab mir solche Mühe gegeben!«
»Das sehe ich«, sagte Hanne, jetzt ruhiger. »Tausend Dank.«
»Dir auch tausend Dank«, schniefte Marry. »Jetzt bin ich wirklich froh, echt.«
Sie zog ein riesiges Taschentuch aus ihrem Pulloverärmel und wischte sich die Augen. Dann reichte sie Hanne einen gelben Zettel.
»Heute morgen hat ein Typ angerufen. Unverschämt früh. Ich hab mich geweigert, dich zu wecken. Ich wollte eigentlich die Klappe halten. Aber jetzt bin ich froh, Hanne. Jetzt hast du eine alte Seele glücklich gemacht!«
Sie humpelte in die Küche. Glücklicherweise hatte sie vergessen, die lärmende Dekoration wieder einzuschalten.
»Ich bin rechtzeitig wieder da«, sagte Hanne und kam Nefis damit zuvor, während sie den Zettel kurz überflog. »Heute muß ich doch kochen. Versprochen.«
Sie hob einen Heiligenschein vom Boden auf und drückte ihn einer Putte aufs Haupt.
»Irgendwie ist es ja auch niedlich«, sagte sie und lächelte.
Die Feiertage schienen die Neugier der Presseleute gedämpft zu haben. Auf jeden Fall war in dem beißenden Wind, der an den Häusern in der Eckersbergs gate entlangpfiff, keine Spur von ihnen zu entdecken. Nur eine Katze lief über den verlassenen Bürgersteig. Sie schüttelte bei jedem Schritt die Pfote und miaute jämmerlich.
»Ich habe mich oft gefragt«, sagte Erik Henriksen, als sie die versiegelte Haustür aufschlossen, »was solche Leute ihren Kindern erzählen, wenn sie nach Hause kommen und gefragt werden, was sie tagsüber gemacht haben. Tja, sagen sie dann vielleicht: Heute habe ich einen Mann gequält, der eben seine ganze Familie verloren hat. Oder: Heute habe ich eine Kronprinzessin verfolgt, die nur in Ruhe für eine Freundin Geschenke kaufen wollte. Heute habe ich das Leben ziemlich vielen Leuten reichlich sauer gemacht. Oh Scheiße, was für ein Job.«
»Ich glaube nicht, daß die besonders viel erzählen«, sagte Hanne. »Wenn sie nach Hause kommen, meine ich. Klasse, daß du mitmachst.«
»Schon gut«, sagte er und rümpfte die Nase. »Aber ich begreife nicht, wozu dieser Besuch gut sein soll.«
Die Wohnung der Familie Stahlberg war viel zu warm. Noch immer glaubte Hanne, den süßlichen Geruch von Eisen und Chemikalien wahrnehmen zu können, von Blut und der Ausrüstung der Spurensicherungsbeamten. Vielleicht war das nur Einbildung. Auf jeden Fall riß sie ein Fenster auf. Die schweren Samtportieren bewegten sich langsam im Luftzug.
»Die Spurensicherung meint noch immer, daß Sidensvans’ Leiche bewegt worden ist, nicht wahr?«
Sie hockte neben den mit Klebeband markierten Umrissen des toten Verlagsmitarbeiters.
»Ja. Und daß er über die Türschwelle gefallen ist.«
»Daß er also vor der Tür stand. Im Treppenhaus. Als er erschossen wurde, meine ich. Stimmt es, daß er in den Rücken getroffen worden ist?«
Erik suchte in dem kleinen Ordner, den er unter dem Arm hielt. Er zog die Zeichnung eines Menschenkörpers hervor, stilisiert und flach, von vorn und von hinten, die Wunden waren als rote Flecken auf das weiße Papier
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