Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Kreuz.
Hier habe ich nichts mehr verloren, sagte sich Erik Henriksen. Und auf jeden Fall muß ich Sport treiben. Und zwar ganz systematisch.
Hanne hätte am liebsten geweint.
Im letzten halben Jahr war alles soviel besser gegangen. Die protzige Wohnung in der Kruses gate war ihr nicht mehr ganz so fremd. Die wöchentliche Therapiestunde kam ihr nicht mehr so erniedrigend und beängstigend vor wie früher. So lange außer Nefis niemand wußte, daß Hanne klein beigegeben und professionelle Hilfe gesucht hatte, brachte ihr die Behandlung sogar eine gewisse Erleichterung. Sie war jetzt fast ein bißchen abhängig von diesen Gesprächen und hatte in neun Monaten nicht eine einzige Stunde verpaßt. Noch immer hatte sie schreckliche Angst, daß irgend jemand davon erfahren könnte. Noch immer zog sie ihre Jacke enger um sich zusammen, wickelte sich den Schal um das halbe Gesicht und schaute sich nach allen Seiten um, ehe sie bei der Psychologin klingelte, so als betrete sie einen Pornoladen. Aber sie ging hin. Sie fand sich ein. Und das half.
Im letzten halben Jahr war alles besser geworden.
Billy T. und Hanne hatten etwas von dem wiedergefunden, was sie einmal geteilt hatten. Das geschwisterliche Gefühl zwischen ihnen und die namenlose Vertrautheit, die in einer Nacht voll Trauer und Sex verschwunden waren, während Hannes damalige Lebensgefährtin im Krankenhaus im Sterben lag und Hanne dort Trost suchte, wo keiner zu finden war, würden sich niemals wieder einstellen. Das wußte sie. Billy T. sehnte sich danach. Sie sah es ihm an, seinen Blicken und seinen Bewegungen, seiner unbeholfenen Nähe, wenn er, irrtümlicherweise, sie für zugänglich hielt. Und dann mußte sie ihn abweisen, eiskalt werden, sich verschließen. Das aber passierte nicht oft. Sie arbeiteten gut zusammen, und Hanne hatte allmählich begriffen, daß sie ohne ihn nicht zurechtkam. Manchmal, selten, wenn er es schaffte, die Situation nicht herauszufordern, konnte sie die Nähe zwischen ihnen spüren, das intuitive Verständnis, das sie bei keinem anderen Menschen fand, nicht einmal bei Nefis.
Alles schien bereits besser zu werden. Doch dann war ihr Vater gestorben.
Sie empfand keine Trauer, auch wenn Nefis das behauptete. Hanne begriff selbst überhaupt nicht, warum sie so heftig reagierte. Ein Verlustgefühl, so nannte die Psychologin das, ein Verlust von etwas, das hätte sein können. Eine Wut über etwas, das anders hätte sein müssen. Hanne war nicht dieser Meinung. Sie rang mit einem Gefühl, das sie nicht recht deuten konnte, aber es ähnelte weder Zorn noch Trauer. Trotzdem war es ungeheuer bedrückend.
»Hallo …«
Silje Sørensen schaute zur Tür herein. Hanne lächelte sie kleinlaut an und machte sich eilig über irgendwelche Unterlagen her.
»Ich dachte nur«, sagte Silje und verstummte dann. »Komme ich ungelegen?«
»Nicht doch. Komm rein.«
Hannes Lächeln war noch immer starr, und Silje zögerte.
»Ich kann auch später noch mal vorbeischauen.«
»Jetzt setz dich schon.«
Silje setzte sich nicht. Statt dessen legte sie eine abgegriffene, fleckige weinrote Lederbrieftasche vor Hanne auf den Tisch.
»Was ist das?« fragte die Hauptkommissarin.
»Eine Brieftasche«, sagte Silje fast bedauernd.
»Das sehe ich. Aber wem gehört sie?«
»Knut Sidensvans.«
»Ach. Wo ist die denn aufgetaucht?«
»Auf dem Fundbüro. Irgendwer hatte sie gefunden. In der Thomas Heftyes gate. Nicht weit vom Tatort entfernt, mit anderen Worten. Sie lag halb unter Schnee versteckt. Und sein Geld war noch darin, Hanne.«
Wieder klang ihre Stimme leicht beleidigt. Obwohl ihr nicht ganz klar gewesen war, worauf Hanne mit ihrem Gerede über fehlende Schlüssel und Brieftaschen eigentlich hinausgewollt hatte, konnte sie jetzt doch ahnen, daß diese Theorie so ziemlich ruiniert war.
»Das Geld war noch darin«, wiederholte Hanne. »Dann hat er sie wohl verloren.«
»Vermutlich.«
»Aber die Schlüssel hast du nicht gesehen?«
»Nein.«
Keine der beiden sagte etwas. Vor dem Fenster fiel Schnee. Die wirbelnden Flocken funkelten bläulich, als ein Streifenwagen den Åkebergvei hinaufheulte. Vom Gang her waren keine Schritte zu hören, kein Lärm aufgeregter Stimmen. Niemand lachte dort draußen. Keine Verhafteten setzten sich zur Wehr. Das ganze Haus schien schon Feierabend gemacht zu haben.
»Na gut«, sagte Hanne endlich. »Dann hat er die Brieftasche also verloren. Aber wir wissen nicht, ob er die Schlüssel in derselben Tasche hatte.
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